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Friday, January 27, 2017

New York - Jane Jacobs,Schutzheilige des Village

In Greenwich Village beginnt der Tag gelassener als anderswo in Manhattan: Im Mucho Gusto Café blättern die Stammgäste beim Chai Pumpkin Latte in aller Ruhe in der Times, ein junger Mann mit Kampfstiefeln, knielangem Faltenrock und wuchtigem Fuchspelzkragen schlendert mit einer teueren Aktentasche die Hudson Street herab und ein Gespann von Möpsen, französischen Bulldoggen und einem Königspudel zieht hechelnd einen Dogwalker hinter sich her. Aber der umablässige Strom zügiger Radfahrer in Richtung der Wolkenkratzer von Midtown verleiht dem gemächlichen Morgen dann doch seine New Yorker Zielstrebigkeit.



1961 beschrieb Jane Jacobs in ihrem revolutionären Buch "The Death and Life of American Cities" an eben diesem Ort das alltägliche "Bürgersteig-Ballett" ihrer Nachbarschaft: der Besitzer des Lebensmittelladens nebenan stapelt die leeren Kisten des Vortags aufeinander, der Barbier bringt seinen Klappstuhl nach draußen, Mr. Goldstein arrangiert die Drahtspulen im Schaufenster seiner Eisenwarenhandlung, während elegant gekleidete Damen und distinguierte Geschäftsmänner aus den Brownstones der Seitenstraßen auf die Bühne der Avenue treten. Die legendäre, über mehrere Seiten reichende Passage destilliert eine grundlegende Ordnung aus dem Tumult individueller Aktivitäten: die Stadt selbst - ihre Architektur, ihr Straßenraster, die Formation ihrer Häuserblöcke, ihre Mischung von Kommerz und Wohnen – inszeniert die komplexe Choreographie. Jacobs verdankte ihre bahnbrechenden Einsichten in das Wesen der Metropole weniger akademischen Studien und Statistiken als der minutiösen Beobachtung des Alltags ihrer unmittelbaren Umgebung. Und nicht zuletzt der Überzeugung, dass den Einwohnern mehr Authorität über die Gestaltung und soziale Organisation ihrer Nachbarschaften zustehen sollte als den Architekten und Städtebauern. Von Ben Carson, den Trump gerade zum Minister für Wohnungswesen und Stadtplanung ernannte und der sich allein durch ein paar Kindheitsjahre in einer Sozialwohnungssiedlung für den Posten qualifiziert wähnt, hätte sie vielmehr auch die Unterstützung  unterprivilegierter Mitbürger durch integrativen Wohnungsbau verlangt. “Fair Housing” bedeutete für Jacobs die Koexistenz unterschiedlicher Einkommensgruppen auf engem Raum – der ehemalige Neurochirurg versteht darunter jedoch “obligatorische Sozialtechnik” wie im Kommunismus.


Lust an der Unfolgsamkeit
Jane Jacobs hat gerade ihren hundertstend Geburtstag gefeiert, und mit ihrer Zivilcourage, ihrer Lust an der Unfolgsamkeit und ihrer Vision der Großstadt als einem ebenso gewaltigen wie filigranen Organismus ist sie heute wichtiger denn je: wenn Banken und immergleiche Ladenketten überall eine desorientierende Monotonie verbreiten, wenn die hundertmillionen Dollar Apartments in neunzigstöckigen Glastürmen 350 Tage im Jahr unbewohnt sind, wenn sich Innenarchitekten auf Mikroapartments vom Ausmaß einer Gefängniszelle spezialisieren und Einkommensschwache wegen der nie dagewesenen Wohnungsnot zugunsten der Mittelklasse aus ihren verkommenen Mietskasernen vertrieben werden, sind ihre Schriften ein Aufruf zum Widerstand. Die 400-seitige Biographie "Eyes on the Street", eine Anthologie kurzer Text emit dem Titel "Vital Little Plans' und die im März uraufgeführte Oper "A Marvelous Order" zeichnen das Portrait einer furchtlosen Frau, die sich die Zerstörung ihrer geliebten Stadt nicht gefallen ließ. Selbst von dem mächtigen Robert Moses, der das New York des 19. Jahrhunderts im Dienste einer modernen, dem Auto geweihten Utopie niederreißen wollte, ließ sich die Tochter eines prominenten Arztes und einer emanzipierten Krankenschwester nicht einschüchtern.

Als Jane Butzner 1934 aus der Industriestadt Scranton nach Brooklyn zog, erschien ihr Manhattan als ein verwirrendes, beglückendes Chaos. Für Vogue schrieb sie Artikel über den Pelzhandel, über das Blumenviertel, den Diamantendistrikt, die Lederinsdustrie. Auf einer ihrer Erkundungsfahrten mit der U-Bahn landete sie an der Christopher Street - und fand ihre zukünftige Heimat inmitten der literarischen, künstlerischen und politischen Avantgarde des Village. Mit der heute längst vertriebenen Boheme dieser Ära, deren Mythos weiterhin die Immobilienpreise hebt, hatte sie wenig Kontakt. Vielmehr faszinierten sie jene unauffälligen Bürger, die das reibungslose Funktionieren ihres Viertels garantierten. In der Nachkriegszeit, als die Suburbs an Beliebtheit gewannen und amerikanische Metropolen unter Vernachlässigung zu leiden begannen, als ökonomische Monokulturen wie die Autoindustrie in Detroit ihrem Niedergang entgegen steuerten, als die Kriminalität stieg und die Staße vom geteilten zivilen Raum zur Gefahrenzone mutierte, verteidigte sie unermüdlich die Qualitäten der Megacity.

Der Bürgersteig als Seele der Stadt
Für Jacobs ist der Bürgersteig die Seele der Stadt: in dieser öffentlichen Sphäre summiert sich eine Vielzahl trivialer Interaktionen zwischen Nachbarn, Ladenbesitzern und Restaurateuren zu einem keineswegs trivialem Vertrauen, das “man nicht durch Instititutionen kultivieren kann” und das niemandem eine Verpflichtung zu privater Nähe abverlangt: jede Metropole ist eine Ansammlung von Mikrodörfern, deren Mischung von Freundlichkeit und Anonymität vor Provinzialität bewahrt. Als Jacobs 1956 ihre Kritik an der Vervorstädterung der City, an Hochhaussiedlungen, Grüngürteln, Satellitenstädten und gewaltsamen Verschönerungsaktionen auf der allerersten Stadtplanungskonferenz an Harvard vor Stararchitekten wie Richard Neutra und José Luis Sert vortrug, initiierte sie den sogenannten "Density Turn": die Einsicht in die Wichtigkeit urbaner Konzentration. Mit dem Klimawandel wurde ihr Beharren auf der Verquickung von Wohnen und Gewerbe und vor allem ihr Lob "überschäumender Dichte", die nicht nur eine Aura von Energie generiert, sondern auch tatsächlich Energie spart, zum Mantra. 















Jane Jacob vor ihrem Haus

Doch Mitte des 20. Jahrhunderts verstieß Jacobs mit ihren Thesen gegen die ordnungsliebende Moderne, die alte, organisch gewachsene Städte zu großen Teilen als ungesunde, unhygienische Slums betrachtete: die "Megalopolis, Tyrannopolis, Nekropolis" war nichts als "versteinertes Chaos", das neuen Siedlungen und gepflegten Grünflächen weichen sollte - "Gras, Gras, Gras", stöhnt Jacobs in der Einleitung zu "Death and Life" und beklagt die friedhöfliche Atmosphäre ehemals lebendiger Gegenden: "Wenn man das Erscheinungsbild der Dinge zum primären Zweck oder zum Hauptdrama macht, schafft man sich nichts als Ärger." 

Le Corbusier, dessen Ville Radieuse das Modell für den sozialen Wohnungsbau lieferte, ist einer jener idealistischen Denker, die sich bei Jacobs als "zwanghafte Manager der Freizeit anderer Leute" unbeliebt machten. Etliche Besuche des George Washington Housing Projects in East Harlem überzeugten sie davon, dass diese isolierten, vom Straßenraster abgeschnittenen  Wohnsilos inmitten struppiger Grünflächen als Brutstätten sozialer Pathologien fungierten. "Niemand fragte uns, was wir wollten, als man diese Siedlung baute. Man riß unsere Häuser ab und schob uns hierhin und unsere Freunde dahin ab. Nirgendwo kriegt man hier auch nur einen Kaffee oder eine Zeitung", zitiert Jacobs eine verbitterte Mieterin. Wie die meisten wider Willen verpflanzten Bewohner dieser unkommunikativen Neubauten suchte auch sie noch immer ihre alte Nachbarschaft auf: rund 1500 kleine Geschäfte und Betriebe - vom Candy Store über den Friseur bis zu den Fleischereien - wurden vom George Washington Project und ähnlichen Siedlungen allein in East Harlem vertrieben - und nie ersetzt. Selbst Kirchen fielen der neuen Ordnung zum Opfer. Als jedoch das ambitionierte, von Minoru Yamasaki (dem späteren Architekten des World Trade Centers) in St. Louis gebaute und bald zum Inbegriff von Vandalismus und Kriminalität verkommene Pruitt-Igoe Housing Project 1972 gesprengt wurde, fand Jacobs die symbolträchtige Aktion verschwenderisch: sie plädierte dafür, diese abgekapselten Armutsfestungen in das Gewebe der Stadt zu einzuflechten statt 12.000 Menschen aus ihrem vertikalen Ghetto zu vertreiben. Im vergangenen Dezember hielten dann schließlich Architekten und Stadtplaner am Cooper Union College in New York ein Symposium zur Restaurierung und Verbesserung der nun als wertvoll, ja unersetzlich erkannten Bausubstanz alter Sozialbauten in London, Paris und Toronto ab.


Strategin der Rettungskampagne
Den Bau des Lincoln Centers, der die Exilierung von 15,000 Bewohnern der berüchtigten “Hells Kitchen” verlange, konnte Jacobs nicht verhindern, und tatsächlich ist der Komplex um die Metropolitan Opera nicht unbedingt ein öder “Superblock”.  Doch als sich 1958 die Pläne zur Zerstörung des Washington Square Parks konkretisierten, übernahm sie eine führende Rolle als Strategin der Rettungskampagne. Schon in den 30er Jahren hatte Robert Moses darauf gesonnen, dieses Verkehrshindernis am Fuße der Fifth Avenue, von dessen Triumphbogen Marcel Duchamp und der Maler John Sloan 1917 die unabhängige Republik Greenwich ausgerufen hatten, zu eliminieren. Als die Aktivisten die heute undenkbare Zerstörung des Village-Juwels schließlich verhinderten, wetterte der erfolgsverwöhnte Moses, dass sich "Niemand, niemand, niemand, außer einem Haufen von Müttern!" gegen seinen grandiosen Plan gewehrt hätte. 

Moses verglich seine Ausmerzung der zu Slums degradierten Bezirke mit Georges-Eugène Haussmanns radikaler Erneuerung von Paris im 19. Jahrhundert. "Man kann kein Omelett braten, ohne Eier zu zerbrechen", lautete sein Leitspruch. Doch Jacobs empfand seine Schnellstraßen als mit der Machete geschlagene Wunden, die zur "Los Angelesierung" ihrer Stadt führten.  Als 1960 vierzehn Häuserblocks in ihrer eigenen Nachbarschaft den Bulldozern zum Opfer fallen sollten, verwandelten sie und ihr Mann - der progressive Krankenhausarchitekt Robert Jacobs - Wohnzimmer und Küche zur Einsatzzentrale: die Klingel wurde abgestellt, die Haustür blieb offen, die Mitstreiter kamen zu jeder Tages- und Nachtzeit, mischten sich ihre eigenen West Village Martinis - und siegten. Der erste, ausschlaggebende Schritt war die Aufhebung der Klassifizierung zum Elendsviertel gewesen.

Jacobs letzte Schlacht in Manhattan galt der Verhinderung des Lower Manhattan Expressways, einer achtspurigen Schneise durch Little Italy und das heute denkmalgeschützte SoHo. In den Künstlern, die Fabriketagen als Ateliers kolonisierten, fand sie treue Alliierte. Bei einer wilden Versammlung gegen den LOMEX wurde Jacobs 1968 verhaftet, wie schon zuvor bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Ihre drei Kinder hatte sie im Geist des zivilen Ungehorsams erzogen, ihnen warme Unterwäsche für winterliche Friedenskundgebungen gekauft, sie zum Plakatieren angeheuert und zur nächtlichen Entfernung von Sicherheitszäunen angestiftet, ohne die Gebäude nicht abgerissen werden durften. Nun bestand die Gefahr, dass ihr bald achtzehnjähriger Sohn Ned eingezogen würde, und auf Jane wartete eine mögliche Gefängnisstrafe. So floh die Familie heimlich im Juni 1968 in einem klapprigen VW-Bus nach Toronto. Und kaum ließ sie sich an der Spadina Street nieder, protestierte Jane gegen den geplanten Spadina Expressway: er wurde nicht gebaut. 

Kein Auftritt mehr vom Corps de Ballett
Bob und Jane hatten ihr schmales Haus im Village Ende der Vierziger Jahre für 7000 Dollar gekauft - 2008 kam 555 Hudson Street für 3,5 Millionen auf den Markt. Im Parterre sitzt jetzt der Immobilienmakler Next Step Realty. Daneben ein leerstehendes Ladenlokal mit eleganter Pforte, dann Perry's News & Grocery, um zehn Uhr früh immer noch und bald sicherlich ganz geschlossen. Mit ihren schwarzen Plastikplanen tragen die Schaufenster von Nummer 557 längst Trauer: wie überall in New York können kleine Unternehmen die Wuchermieten nicht bezahlen, die Hausbesitzer genießen dagegen Steuervergünstigungen für den Einkommensverlust und warten entspannt auf eine Starbucksfiliale, oder die Schokoladenboutique, die ein Investor seiner Frau spendiert - das Corps de Ballet tritt hier schon lange nicht mehr auf. Der schmucke Park ein wenig nördlich ist eine Bereicherung im früher kaum begrünten Village, nur sind die Bänke von Obdachlosen besetzt – erst in den 70er Jahren wurden die Homeless zum Schatten der wachsenden Gier, heute sind es über 60,000.  Aber zumindest über den neuen Fahrradweg würde sich die 2006 verstorbene “Schutzheilige des Village” freuen und sogleich zum Trump Tower radeln – um vier Uhr früh käme dann ein Tweet, und das wäre ein guter Anfang.
Claudia Steinberg

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