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Die Fassade an der Mulberry Street mag in den italienischen Nationalfarben prangen, aber italienische Einwanderer wohnen kaum noch im Viertel
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Auf dem Bürgersteig vor dem Grotta Azzurra Ristorante an der Ecke Broome und Mulberry Street wartet der Kellner auf die ersten Mittagsgäste, doch der Wind zupft an den weißen Tischdecken, die Sonne verschwindet immer wieder, und niemand nimmt Platz. So schaut der junge Mann in der knöchellangen Schürze mit verschränkten Armen dem Fernsehteam zu, das hier mit großen Scheinwerfern einen ausgeglichenen Frühlingstag für die Krimiserie “Blue Blood” zaubert. “Wir drehen oft in Little Italy”, sagt der Kabelschlepper. “Viel Atmosphäre, echtes, altes New York.” Die Türme aus farbigem Glas, die sich in den letzten Jahren wie eine neue Dynastie des Himmels über den grauen, niedrigen Dächern der nahen Lower East Side bemächtigt haben, kommen ebensowenig ins Bild wie das Schaufenster des chinesischen Massagesalons oder das Werbeschild von YanShin Tams Akupunkturpraxis. Der elegante Barbier für sorgfältig unrasierte Metrosexuals schon gar nicht.
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Der schwarzen Stretch Limousine fällt es schwer, sich durch die engen und überfüllten Straßen von Little Italy zu manövrieren
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Doch auch jenseits des Kameraobjektivs regiert die Nostalgie – für den heroischen Einwanderer aus Süditalien, der seine Eltern, sein malerisches Dorf und eine herzzereißende Landschaft von Zitronenbäumen und Zypressen zurückließ, um hier mit vielen lärmenden Kindern in einer beengten Wohnung ohne warmes Wasser zu leben und dann Amerika doch sehr zu lieben. Der aktuellen, gerade veröffentlichten Volkzählung zufolge findet sich unter den 8600 Einwohnern der 30 Häuserblöcke, die einmal Little Italy ausmachten, allerdings kein einziger gebürtiger Italiener mehr. Ganze fünf Prozent sind Italoamerikaner. Keines der rund hundert Mitglieder prominenter Mafiafamilien, die kürzlich auf der Anklagebank saßen, hatte seinen Wohnsitz in
Piccola Italia. Den letzten, von der lokalen Handelsvereinigung ausgeschriebenen Tenorwettbewerb gewann ein Koreaner.
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Die Mafia, in deren verschworene Gemeinde man zumindest symbolisch mit einem Nummernschild Einlaß bekommt, ist fast nur noch Folklore
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Auf der vielleicht 300 Meter langen Meile zwischen Nolita im Norden und der Canal Street im Süden sind die Lampenpfosten und Hydranten rot, weiß, grün gestrichen, an der Grand Street leuchtet sogar die ganze Fassade eines alten Mietshauses in patriotischen Streifen, die renovierten Zweizimmerapartments dahinter kosten über 4000 Dollar im Monat. Als sich auf der Höhe des Immobilienbooms die Restaurantmieten im Epizentrum von Little Italy verfünffachten, flohen einige Etablissements nach Staten Island und New Jersey. Doch das Napoli, das Buona Notte und das Palermo, auf dessen Tischen Bouquets bunter Plastikblumen wie auf den Gräbern von San Michele blühen,
haben Herren in schwarzen Anzügen draußen positioniert. “Lunch?” fragen sie nur knapp, begleitet von einer kleinen einladenden Geste – zur Touristenfalle gehören hier gute Manieren, Old World-Style.
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Und wo in ganz New York würde man sonst wie vor der “Kirche des Kostbarsten Blutes” die Statue eines Heiligen finden, der echte Geldscheine in seinen steinernen Händen hält? Nur in Little Italy" |
Und ein wenig Charme a la Tony Soprano, dem unwiderstehlichen Helden der langjährigen Fernsehserie im Mafiamilieu. Ein Poster des Soprano-Hauptdarstellers James Gandolfini hängt über uralten Schwarz/Weiß-Fotos von Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis im Fenster der Mulberry Bar,
die 2008 ihren hunderdsten Geburtstag feierte. Die senfgelbe Decke ist von Schwaden aus der Zeit, als man in Kneipen noch rauchen durfte, verdunkelt, den Kachelboden durchziehen schmutzige Risse, die Spitzengardinen im Hinterraum sind vergilbt. Ein Gemälde hinter Glas portrairtiert die Stammgäste der 70er Jahre wie eine Genrestudie des 19. Jahrhunderts. Ab und zu klingelt es aus der Telefonzelle in der Ecke, ein fast antikes Geräusch. Die Blondine an der Bar könnte in ein Edward Hopper-Gemälde gehören, wären da nicht die drei riesigen Flat Screens, auf denen stumm die Nachrichten laufen. Doch ein paar Rucksacktouristen sind stolz, ein Stück richtiges Little Italy gefunden zu haben. Dass hier am Wochenende Karaoke geboten wird, spricht ja nur für die Authentizität des Lokals.
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In Little Italy gibt es keine Parkplätze, weder für Italiener noch sonst jemandenAdd captionAdd caption |
Fodor’s New York City Guide beschreibt die letzten Überreste von Amerikas einst größter Kolonie italienischer Immigranten als “fröhlich”, empfiehlt aber die Arthur Avenue in der Bronx für einen wirklichkeitsnahen Einblick in die italoamerikanische Gegenwart. Aber da steht kein silberner Karren des Canoli-Kings auf der Straße, dort gibt es keine Gangsterfolklore und keine Rat Pack- Romantik. Und wo in ganz New York würde man sonst wie vor der “Kirche des Kostbarsten Blutes” die Statue eines Heiligen finden, der Geldscheine in seinen steinernen Händen hält? Noch immer kommen jeden September drei Millionen Besucher zur Feier des San Gennaro, dem neapolitanischen Märtyrer und Schutzpatron des historischen Distrikts, den die Stadtverwaltung schon längst mit Chinatown fusioniert hat. Die Boutique- und Restaurantbesitzer von NoLita haben bereits Einspruch gegen das zweiwöchige Volksfest eingelegt, das ihnen Grilldünste in die schicken Räumlichkeiten weht und ihre elegante Klientel vertreibt.
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Das Rat Pack wird auch heute noch, lange nach dem Tod von Dean Martin, Sammy Davis und Frank Sinatra in Little Italy verehrt. Auch die Fernsehserie "The Sopranos" ist längst Geschichte.
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Aber noch immer haben nur 16 Prozent aller Amerikaner einen Reisepaß, und “die meisten US-Touristen kommen nach Little Italy, weil sie Italien erleben wollen”, meint Dr. Joseph Scelsa, der ehemalige Rektor des Italian American Institutes an der City University. Vor zwei Jahren eröffnete er in einer ehemaligen Bank an der Mulberry Street das Italian American Museum: eine Fin de Siecle Nähmaschine, ein Hochzeitskleid von 1908, Schiffsbillets von der Überseereise und ein ganzes Puppentheater gehören zu den Objekten, die Scelsa mit großer Dringlichkeit für seine Institution aus der Nachbarschaft zusammengetragen hat, bevor auch die letzten Memorabilien dieses wichtigen Kapitels in der Kulturgeschichte Manhattans verloren gegangen sind. “Little Italy wird es nicht mehr lange geben”, sagt er, “aber zumindest konservieren wir es in einem Museum.” Aber wenn die Sonne wieder hinter den Wolken vorkommt, kann man bei einem Espresso zwischen der Mulberry Street Cigar Company mit der John Wayne Büste im Fenster und dem chinesischen Souvenirladen mit seinen goldenen Buddhas die Geschichte vorbeifliegen sehen.