Sie sei mit ihrer “üblichen Geschwindigkeit in die Welt gerast und habe wie eine Katze geschrien” - so beschreibt Peggy Guggenheim in ihren Memoiren ihre Geburt in einer prächtigen New Yorker Villa am 28. August 1898. Mit ihrem Lebenshunger, ihrer Neugier und Ungeduld fühlt sie sich inmitten der pompösen viktorianischen Möbel ihres Elternhauses, bewacht von einem ausgestopfen Adler und einem gemeinen Kindermädchen, von je her als Gefangene. Die ältere Schwester Benita verehrt sie, auf die jüngere Hazel ist sie eifersüchtig, beide sind in den Augen der Mutter schöner als Peggy. Sie sind ihre einzigen Gefährtinnen, denn die drei Töchter aus besten jüdischen Kreisen werden daheim von Privatlehrern erzogen.
Die Rockefellers wohnen nebenan, doch die pflegen keinen Umgang mit den jüdischen Parvenüs. Selbst Florette Seligman, die aus einer Bankiersfamilie stammt, schaut auf die Herkunft ihres Gatten mit gelinder Verachtung herab: die Guggenheims wanderten erst 1848 aus dem schweizer Ghetto von Lengnau in das tolerante Philadelphia aus und waren Hausierer, ehe sie in der Bergbauindustrie in Vermögen machten. Mit acht begreift Peggy, dass der gutaussehende, von ihr so bewunderte Vater eine Geliebte hat. Die elterlichen Konflikte machen sie frühreif - und schüren ihre Fluchtgedanken: nur raus der engen Welt der schwachen, leidenden Mama mit ihren tödlich langweiligen Teeparties. “Es gab damals keine guten Mütter”, erklärt die lebenslange Rebellin mit ihrer entwaffnenden Nüchternheit in dem neuem Film “Peggy Guggenheim: Art Addict” von Lisa Immordino-Vreeland, die das turbulente Leben der Sammlerin, Mäzenin und Museumsgründerin mit dem gleichen visuellen und faktischen Reichtum dokumentiert wie ihr Portrait von Diana Vreeland von 2012.
Peggy ist dreizehn, als Bejamin Guggenheim nach langem Aufenthalt in Paris, wo er in den Bau der Aufzüge des Eiffelturms involviert war, mit der Titanic untergeht - als Gentleman im Smoking, der galant Kindern und Frauen - darunter seiner Geliebten, einer blonden Sängerin - den Vortritt auf das Rettungsboot läßt. “Davon habe ich mich nie erholt”, schreibt Peggy, fortan auf der Suche nach einer Vaterfigur. Auch finanziell tritt mit Benjamins Tod ein entscheidender Wandel ein: posthum kommen seine verfehlten Investitionen und hohen Schulden ans Tageslicht, die plötzlich “verarmten Verwandten” müssen das meiste Personal entlassen und in eine kleine Wohnung umziehen - Peggy fühlt sich nicht mehr als eine “echte Guggenheim”, auch wenn ihr Balldebut mit allem Pomp im Ritz stattfindet. Zur Volljährigkeit erhalten ihre Cousins bis zu acht Millionen, Peggy erbt 1919 dagegen nur 450,000 Dollar, auszuzahlen in Jahresraten von 22,000. Aus dem schmalen Budget kommt auch das weiterhin fällige Schweigegeld an die Geliebte des Vaters. Einen Teil ihrer Erbschaft investiert Peggy jedoch in eine Reise durch die USA mit geheimem Ziel. “Ich hatte eine wundervolle Figur, ganz schlank, kastanienbraunes Haar und grünblaue Augen”, sagt sie über sich. “Die Nase - nun, sie war zu groß.” In Cincinatti soll sie in ein hübsches Näschen verwandelt werden, doch der damals noch wenig erprobte Eingriff mißlingt und wird ihr für immer einen weiteren Minderwertigkeitskomplex bescheren.
Peggy Guggenheim, ca. 1926
Ihr seelenverwandter Vetter Harold Loeb, Teilhaber der Avantgarde-Buchhandlung Sunrise Turn in Greenwich Village, heuert Peggy als unbezahlte Hilskraft an - und eröffnet ihr eine neue Welt. Sofort fühlt sie sich im unkonventionellen Downtown heimisch und verliebt sich in den in Frankreich und Italien aufgewachsenen Schriftsteller und Maler Laurence Vail: ihn umweht eine aufregende europäische Aura und erscheint ihr - ohne Hut und in Hemden aus buntem Gardinenstoff - “wie ein Lebewesen aus der Wildnis.” Als er nach Paris verschwindet, begibt sich Peggy auf eine enzyklopädische Kunstexpedition durch Holland, Belgien, Spanien und Italien - in Pompeji bestärken sie die erotischen Fresken in ihrem Beschluß, ihre mit 23 längst sehr lästige Jungfräulichkeit loszuwerden. Vail leistet Hilfe und führt sie in die Künstler- und Literatenszene der Pariser Cafés ein: im Dôme, Select, Flore und Deux Magots trifft sie seine Exfreundin Djuna Barnes, Kiki de Montparnasse, Marcel Duchamp und Jean Cocteau.
Peggy Guggenheim in einer Robe von Paul Poiret, fotografiert von Man Ray, 1923
Auf dem Eiffelturn macht Vail ihr einen Heiratsantrag, sie willigt ein. Noch vor der Geburt ihres Sohnes Sindbad entpuppt sich ihr “König der Bohéme” als gewalttätig, er zerschmettert das Mobiliar, schmiert ihr Marmelade ins Haar, schlägt sie. Zwischen den Wutausbrüchen gibt es schöne Momente in Ägypten, in der Wüste, und auch wieder in Paris, wo Breton 1924 sein surrealistisches Manifest veröffentlicht. Alberto Giacometti, Miró, Mondrian, Braque, Léger und ihre Kollegen erfinden die Moderne, die Stadt vibriert und schimmert. Man Ray fotografiert Peggy mit 25 cm langer Zigarettenspitze in einem mondänen Kleid von Paul Paul Poiret. 1926 kommt ihre Tochter Pegeen in einem Luxushotel bei Lausanne zur Welt; ein Jahr später stirbt Benita im Kindbett, damit hat die untröstliche Peggy ihre New Yorker Heimat verloren.
Ihre Ehe zerbricht kurz darauf, an Veils Stelle tritt der elegante britische Hüne John Holms, wie sein Vorgänger ein Autor mit Schreibhemmung und schwerer Trinker. Dem charismatischen Intellektuellen, der sie mitunter bis zur Erschöpfung, ja bis in ihre Träume hinein mit seinem ungeheueren Kunstwissen überhäuft, opfert sie die Beziehung zu Sindbad: Vail erhält das Sorgerecht für den Sohn, sie für Pegeen. Im Sommer 1932 mietet sie mit “ihrem Sokrates” ein imposantes Anwesen am Rand von Dartmoor, Djuna Barnes - von Peggy bis an ihr Lebensende mit einem monatlichen Stipendium unterstützt - ist eingeladen. In einem Rokokozimmer verfaßt sie große Teile ihres wichtigsten Romans, Nightwood. Im folgenden Sommer stirbt Holms nach einer durchzechten Nacht an der Narkose für eine Handoperation. Später nennt Peggy ihn die Liebe ihres Lebens, und doch ist sie nach der Einäscherung erleichtet, ihrer eigentlichen Bestimmung ergeben: nach Erhalt einer weiteren Erbschaft plant sie, eine Galerie in London zu eröffnen.
1968: Peggy Guggenheim steht vor Picassos Gemälde “On the Beach” im Peggy Guggenheim Museum in Venedig
Marcel Duchamp fungiert als ihr exquisiter Berater - “sehr clever von mir, nicht wahr?” findet Peggy. Mit dem Namen Guggenheim Jeune distanziert sie sich von der Gallery for Non-Objective Art, die ihr Onkel Solomon in New York unter der unerbittlichen Regie der konkurrenten Baronin Hilla von Rebay aufbaut. Im Januar 1937 sorgt Peggys Galerie mit der Eröffnungsausstellung von Jean Cocteaus Zeichnungen nackter Männer für Aufregung: die konservative Presse spricht von “Müll”, aber Samuel Beckett, mit dem sie kurz zuvor eine intensive Affaire begonnen hat, telegraphiert Glückwünsche aus Paris. Kandinskys erste Show in England folgt, eine Ausstellung von Kinderzeichnungen - auch von Pegeen und Lucien Freud - gilt als revolutionär. Peggy will ein Museum schaffen, doch der Krieg braut sich zusammen, sie geht nach Paris. Anfang 1940 verschreibt sie sich ihrer Mission, jeden Tag ein Kunstwerk zu kaufen, das auf der von Duchamp und dem Kunstritiker, Dichter und Anarchisten Sir Herbert Read erstellten Liste steht, von Archipenko bis Tanguy.
Bis in die Nacht wird sie von verzweifelten Künstlern aufgesucht, die ihre Flucht aus Europa vorbereiten. Am Tag von Hitlers Invasion in Norwegen sucht sie Légers Atelier auf und erwirbt ein Bild. Er rät ihr, ihre Sammlung im Bunker des Louvre außerhalb von Paris in Sicherheit zu bringen, doch das Museum befindet die Werke als nicht der Rettung wert. Als Haushaltswaren deklariert und unter Wäsche und Geschirr versteckt gelangt der Schatz über Umwege schließlich nach New York. Peggy verharrt bis zur letzten Minute in Paris, erst drei Tage vor Einmarsch der deutschen Truppen flieht sie in ein Haus am Lac d’Annecy: “Angst liegt nicht in meiner Natur.” Dank ihrer finanziellen Unterstützung entkommen fünf gefährdete Personen, darunter Andre Breton und Max Ernst, nach Übersee. Mit ihnen landen Peggy, Laurence Vail, und ihre beiden Kinder am Juli 1941 auf dem Flughafen von New York.
Den notorischen Frauenheld Max Ernst hat sich Peggy gleich zum Liebhaber ausersehen, er zieht in ihre erlesene Wohnung am Beekman Place mit dem East River Panorama, er kolonisiert die zehn Meter hohen Räume mit gigantischen Skulpturen aus Neuguinea und dem präkolumbianischen Amerika, er trägt ihre schönsten Jacken. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor wird der Deutsche vom Hitler-Flüchtling zum US-Staatsfeind, Peggy heiratet ihn, um seine Ausweisung zu verhindern. Sie liebt in, er trauert Leonora Carrington nach. Peggy konzentriert ihre Energie auf ihre neue Galerie mit dem ambitionierten Namen Art of this Century. Der österreichische Architekt Friedrich Kiesler inszeniert an der 57th Street mit gewölbten Wänden, gewellten Stoffbahnen, einem flexiblen Hängungssystem aus Schnüren mitten im Raum und sogar Klangeffekten ein radikal neues Kunsterlebnis.
Kunstmäzänin und Tierfreundin. Hier m it drei ihrer Lhasa Apsos
Zur Vernissage im Oktober 1942 bekennt sich Peggy mit einem Ohrring von Yves Tanguy und einem von Alexander Calder sowohl zum Surrealismus als auch zur Abstraktion. Und sie steht für ihr Geschlecht ein: in der als “Herrenclub” verrufenen New Yorker Kunstwelt organisiert sie die erste reine Frauenausstellung. “31 Women” zeigt u.a. Arbeiten von Frieda Kahlo, Gypsy Rose Lee, Louise Nevelson Sophie Taeuber Arp - und Dorothea Tanning. Der von Peggy riskanterweise zum Kurator für die visionäre Show erwählte Max Ernst verliebt sich bei seinem Atelierbesuch in die surrealistische Malerin. “Ich hätte mich auf 30 Künstlerinnen beschränken sollen”, meint Peggy sarkastisch. Doch in dieser Zeit tritt sie auch erstmals in der Rolle einer Mäzenin großen Stils auf: inspiriert von Mondrian krönt sie Jackson Pollock zum Star einer neuen amerikanischen Kunstbewegung, dem Abstrakten Expressionismus. Die von ihr in Auftrag gegebene, sieben Meter lange Leinwand “Mural” bleibt sein größtes Werk, und die Entdeckung von Jackson Pollock betrachtet Peggy als ihre bedeutendste Leistung.
Mit ihren Schmetterlingsbrillen, einer exzentrischen Garderobe und der ewigen Schar von Lhasa Apsos zu ihren Füßen wird sie zur Ikone Venedigs
Nach dem Krieg zieht es sie nach Europa zurück, insbesondere nach Venedig, wo es glücklicherweise “kein normales Leben gibt, wo alles und jeder treibt.” Am Ufer des Canale Grande entdeckt sie den Palazzo Venier de Leoni, den unvollendeten Flachbau einer Patrizierfamilie aus dem 18. Jahrhundert. Mit einer Skulpturenausstellung im Garten des von Weinlaub umrankten Gebäudes - sie zeigt Arp, Lipchitz, Brancusi, Giacometti und ihre brandneue, sofort sagenumwobene Reiterstatue von Marino mit dem abnehmbaren Phallus - bereitet sie 1949 ihr letztes Lebenskapitel als Museumsgründerin vor. Inzwischen sind ihre skandalösen Erinnerungen unter dem Titel Out of this Century erschienen, ihre Sammlung von 400, vorläufig noch anonymen Liebhabern macht sie noch berühmter als ihre Kunsttrophäen. 15 Jahre später gibt sie in einer überarbeiteten Version ihrer Memoiren, die Gore Vidal provozierend mit Gertrude Stein auf eine Stufe stellt, die Namen der Männer preis. “Women’s Lib? Ich war eine befreite Frau, lange bevor es den Namen gab”, kommentiert Peggy ihre Rolle als sexuelle Eroberin. In der fragmentierten, umstürzlerischen Kunst ihrer Ära sieht Peggy ihre eigene Seele gespiegelt, in ihren Schöpfern findet sie Mitstreiter im Kampf gegen die Konvention und die Langeweile, ihre Bête Noire. Das war ihr alles wert: “Ich habe nie eine Rückzahlung erwartet - die Künstler haben der Menschheit so viel gegeben.”
Das Venedig von Peggy Guggenheim. Hier verbrachte “die letzte Dogeressa” eine rauschende Zeit und auch die letzten Jahre ihres Lebens
In den im mediterranen Blau eines de Chirico Himmels gestrichenen und von zahllosen Bildern und Plastiken bevölkerten Privaträumen ihres Palazzos gibt Peggy rauschende Feste mit berühmt schlechtem Essen und billigem Wein - lieber investiert sie in die Kunst. Mit ihren Schmetterlingsbrillen, einer exzentrischen Garderobe und der ewigen Schar von Lhasa Apsos zu ihren Füßen wird sie zur Ikone Venedigs und von der Stadt als “letzte Dogeressa” gefeiert. Als Pegeen jedoch 1967 Selbstmord begeht, “verschwindet alles Licht” aus Peggys Leben. Im Palazzo widmet sie einen Raum den Zeichnungen ihrer komplizierten Tochter. Kurz vor ihrem Tod im Jahr 1979 genießt Peggy einen Moment süßer Rache, als die Orangerie - ein Teil des Louvre - ihre einst verachtete Sammlung zeigt. Die Zukunft der 326, heute auf Milliarden geschätzten Werke verhandelt sie schließlich mit der Familie: ihr Museum wird Teil der Guggenheim Stiftung, dem auf “Onkel Sols Garage” an der Fifth Avenue untersteht. Denn am Ende triumphiert das schwarze Schaf: “Ich habe sie alle überrascht!
Claudia Steinberg
Dieser Artikel erschien in der May-Ausgabe 2016 der deutschen Vogue
Dieser Artikel erschien in der May-Ausgabe 2016 der deutschen Vogue