Acht Jahre sind vergangen, seit Louise Bourgeois 1938 aus Paris nach New York übersiedelte. Dank ihres selbstbescheinigten, “furchtbaren Verlangens zu gefallen” bemüht sie sich, dem Kunstgelehrten Robert Goldwater eine gute Gattin, seinen Freunden und Kollegen eine tadellose Gastgeberin und ihren drei Söhnen eine aufmerksame Mutter zu sein. Doch nun, 1946, bricht ihre Verzweiflung und Rage über die Zwangsjacke dieser weiblichen Rollen mit einer Serie kleiner Bilder unter dem Titel “Femme Maison” ans Tageslicht: dem Kopf der Frau ist ein Haus wie ein Käfig übergestülpt, der sie blind und unsichtbar zugleich macht, während ihr nackter, der Arme beraubter Leib schutzlos der Welt ausgeliefert ist - ein archetypischer Alptraum. Das Motiv der Häuslichkeit als Gefangenschaft und Identitätsverlust greift die Künstlerin immer wieder auf: 1983 ist die Haus-Frau gänzlich unter einer Robe aus wallendem Marmor wie unter einer Burka verborgen, ihr Haupt von einem kleinen Schachtelbau gekrönt; zwanzig Jahre später sitzt ein viel zu eng bemessenes Haus auf dem gewölbten Bauch einer liegenden Stoffgestalt.
Im Laufe ihres Lebens soll das Townhouse, das Louise und ihr Mann 1962 in einer idyllischen, baumbestandenen Straße in Chelsea kauften, jedoch zu ihrem “freundlichen Refugium” werden: “Es ist wie eine meiner Zellen, eine meiner Höhlen”, sagt sie. Tatsächlich sind die Metallgehäuse, in die sie in den 90er Jahren Reliquien ihrer mythologisierten Vergangenheit, aber auch Kunstwerke sperrt (zum Beispiel eine Marmorminiatur ihres Elternhauses hinter einer Guillotine), den Dimensionen ihrer Zimmer an der West 20th Street verwandt. Als Louise Bourgeois um die Jahrtausendwende nicht mehr ausgeht, wird ihr das Haus zur Welt. Einzig die Menschenschlange vor der Suppenküche der St. Peter’s Church gegenüber lockt sie an das Fenster ihrer spartanischen Kammer in der Belle Etage. Von Besuchern mitgebrachte Bouquets läßt sie umgehend auf den Treppenstufen der Kirche deponieren - wie alles Dekorative machen ihres Erachtens auch Blumen die Frau zur Dienerin des Heims: “Ich benutze das Haus”, insistiert sie. “Das Haus benutzt mich nicht.
Das Interieur des Nachbarhauses, das die Künstlerin 2008 dem Kostümdesigner William Ivey Long abkaufte, strahlt dagegen in kalkigem, kaltem Weiß. Die goldene Pracht des Vorgängers ist übertüncht, nur ein Kristalllüster schwebt noch über einem Glaskasten, der eine kleine, rosa, merkwürdig fleischliche Stoffskulptur wie das letzte Exemplar einer zugrunde gegangenen Spezies beherbergt. In zwei Vitrinen ruhen Dokumente aus Louises Leben: ein von 20 Frauen, darunter Lucy Lippard und Nancy Spero, unterzeichneter Brief an MoMA-Direktor William Rubin aus dem Jahr 1973, der eine Bourgeois-Ausstellung fordert (zu der es dann auch 1982 endlich kommt); eine Gasrechnung von ihrem ersten eigenen Apartment an der Rue du Seine; ihr Studentenausweis, ihre Reisepässe, winzige Notiz- und Zeichenbücher und sogar eine Seite aus dem Kontobuch ihrer Pariser Galerie, wo sie Zeichnungen und Drucke verkaufte: Modigliani, Bonnard - und einige Picassos an Robert Goldwater: so lernte sie ihn kennen.
Die von Bourgois bereits 1980 gegründete Easton Foundation profitiert von ihrer lebenslangen Neigung, Schriftstücke unterschiedlichster Natur als Andenken aufzubewahren. Darunter auch die Korrespondenz mit dem mächtigen, verhaßten Vater, den sie in ihrem Werk immer wieder vernichten mußte. Doch schreibt die Tochter aus New York in verbindlichem Ton - über die Lichter des nächtlichen Harlem, die “wissenschaftliche, grausame, romantische Qualität” der Stadt. Von der Wand blickt der Verräter - in Uniform, die Zigarette in der Hand - mit selbstbewußtem Charme aus einem gerahmten Familienportrait in den langen, schmalen Raum. In der Nähe hängt ein Bild von Louise auf der Treppe ihres Hauses in einem knielangen, ganz aus Brüsten bestehenden Kostüm für eine Performance in der Patricia Hamilton Gallery, 1978. In den oberen Etagen hat die Stiftung, der beide Häuser unterstehen, zwei Plätze für Stipendiaten eingerichtet - vor Ort können sie die rund 3000 bisher katalogisierten Papiere in Gesellschaft einiger auserwählter Werke studieren. Wie einer an die menschliche Wirbelsäule erinnernde Steele von archaischer Intensität - sie zählt zu den Personages, Bourgeois’ frühen, aus Fundstücken vom Dach ihrer ersten New Yorker Wohnung konstruierten Totempfähle, die Freunde und Familie in Europa symbolisierten.
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„Raum existiert gar nicht, er ist nur eine Metapher für die Strukturen unseres Daseins“ – Louise Bourgeois |
Sie lebte in Brooklyn, noch ehe das New Yorker Stadtviertel zum Hipster-Mekka erkoren und eine Monatsmiete dort unerschwinglich wurde. Überhaupt hatte Louise Joséphine Bourgeois, 1911 in Paris geboren, vor allem eines: ihre ganz eigene Vision vom Leben und von der Kunst. Die Bildhauerin aus einer bürgerlichen Familie, erlangte mit ihren Skulpturen und Installationen in der Neuen Welt und von dort aus auch auf internationalem Parkett Weltruhm erlangte:
Der Kontrast des so elegant renovierten Archivs zu seinem verlebten, vergilbten, verschrammten Zwilling nebenan könnte nicht radikaler sein. Auf einer kleinen Konsole in der Diele steht ein Glas mit blaßblauen Zuckermandeln aus unbestimmter Zeit vor dem Tod der vernaschten Künstlerin im Jahr 2010. Eine ausgetretene Treppe führt in das Schlafzimmer, das Louise von dem Morgen, da Robert Goldwater unvermutet an einem Herzinfarkt erlag, zum Mausoleum erklärte - seit dem 26. März 1973 verharrt ein trüber Shalimar-Flakon auf der Kommode, neben dem Bett hängt eine Zeichnung von LeCorbusier, einem guten Freund, im überquellenden Bücherregal preßt Die Weisheit Laotses gegen The Cosmopolitan Girl und Miss Lonelyhearts ist neben den Mythos der Geisteskrankheit geraten, Auf der anderen Seite des Flurs liegt der Zufluchtsort der plötzlichen verwitweten Künstlerin - ein karges Zimmer mit einem schmalen, kaum benutzen Bett: hier entstanden ihre Insomnia-Drawings, gezeichnet in den frühen Morgenstunden und voller Zorn gegen die quälende, oft 48 Stunden anhaltende Wachheit in die untere Etage geworfen, wo sie ihr langjähriger Assistent und jetziger Direktor der Eston Stiftung, Jerry Gorovoy am nächsten Tag aufsammelte.
2005 verließ Louise Bourgeois den einsamen ersten Stock auf immer und lebte fortan in ihrer Kemenate mit den fleckigen Wänden, auf die sie in großen Ziffern die wichtigsten Telefonnummern notiert hatte. Ihr Versteck lag hinter der Küche mit der einen Kochplatte und dem von roter Gouache wie mit Blut gebeizten Holztischisch, auf dem sie jeden Sonntag Vodka und Whiskey für ihre Gäste bereitstellte. Seit Roberts Abwesenheit ihr die Wochenenden unterträglich machte, folgten Künstler und Schriftsteller der Einladung, ihre Arbeiten zu präsentieren. Wie Schulkinder hockten sie auf den niedrigen Stühlen in der Hoffnung auf einen ermutigenden Orakelspruch von der winzigen Person in den altmodischen Kleidern - oft verließen sie jedoch das Haus in Tränen, eskortiert von zwei empathischen “Body Guards”. Noch ist Louise Bourgeois an diesem Schauplatz so vieler Emotionen präsent. Wird er seine Aura verlieren, wenn die vollbespickte Pinwand mit den alten Fotos, Zetteln, Zeitungsausrissen und Medallien gereinigt an ihren Platz zurückkehrt? Wenn die Decke von der blätternden Farbe befreit ist und die Fenster zum ersten Mal seit vielen Jahren geputzt sind, um die Räumlichkeiten in den nächsten Monaten auf Besucher vorzubereiten? Ein paar Seelenmoleküle mögen sich verflüchtigen, aber andererseits hat Louise Bourgeois die Patina nicht kultiviert, und der Staub war ihr einfach total gleichgültig.
Claudia Steinberg
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