Die Physikerin und preisgekrönte Wissenschaftsautorin Margaret Wertheim: “Häkeln als Akt der Mathematik, um die Umwelt zu retten”.
Christine Wertheim unterrichtet am “California Institute For the Arts” experimentelles Schreiben
Los Angeles - Zwei Schwestern demonstrieren zur Rettung der ozeanischen Welt: Gehäkelte Mathematik
Vor fünf Jahren breiteten sich die ersten gehäkelten Seeanemonen, Feuerkorallen und Blumentiere auf dem Eßzimmertisch der australischen Zwillinge Margaret und Christine Wertheim aus. Allmählich krochen die gekräuselten Gebilde – kaum schneller als ihre ozeanischen Verwandten - über den Fußboden in die benachbarten Zimmer, um schließlich das ganze Einfamilienhaus in Los Angeles zu kolonisierten. Seither ist das wollene Riff mit Unterstützung von drei Männern und dreitausend Frauen aus aller Welt zu einem Organismus angewachsen, der mit seiner Farb- und Formenvielfalt den wundersamen Unterwassergärten dieser Erde immer mehr gleicht. Dabei wurden Hirn-, Rosen- und Doldenkorallen sowie zahllose andere Meeresgeschöpfe mit ihren Fühlern und Tentakeln nicht unbedingt botanisch korrekt in Alpaka, Angora oder Mohair übersetzt, sondern den beiden Initiatorinnen der wuchernden aquatischen Landschaft ging es eher um eine poetische Heraufbeschwörung dieser monumentalsten aller von Lebenwesen geschaffenen Strukturen. Für die 52-jährigen Schwestern, die im Staat Queensland mit dem Great Barrier Reef zu ihren Füßen aufgewachsen sind, ist die akute Bedrohung dieser einmalig komplexen marinen Systeme durch Klimaveränderung, Übersäuerung und Verschmutzung der Ozeane besonders schmerzlich: “Während diese Biotope, die ein Viertel aller Meerestiere beherbergen, sterben, entstehen gleichzeitig monströse Plastikinseln im Pazifik,” erklärt die Physikerin und preisgekrönte Wissenschaftsautorin Margaret Wertheim die Idee zur Kreation eines prächtigen Korallenriffs von Menschenhand. Ihre textile Nachbildung der verschwindenden tropischen Wunderwelt war inzwischen in etlichen Kunstmuseen zu sehen, und im November wird die Smithonian Institution in Washington als erste naturwissenschaftliche Einrichtung eine 15 Quadratmeter große Portion der internationalen Häkelarbeit zeigen.
Detail einer Insel des Latvian Reefsmit Korallen von Dagnija Griezne. Photo IFF.
Doch die phantastische Garnformation ist nicht nur ökologisches Mahnmal und kollektives Kunstwerk. Vielmehr handelt es sich um das prominenteste Projekt des von den Wertheims im Jahr 2003 gegründeten – und von ihrem gemeinsamen Wohnzimmer aus betriebenen - Institute for Figuring. Das IFF hat sich der Mission verschrieben, die ästhetischen Qualitäten der Wissenschaft zu offenbaren, von den in Paisleymustern versteckten Fraktalen über die in den Schuppen der Ananashaut verborgenen Fibonacci-Zahlenreihen bis zu den logaritmischen Spiralen, die sich in den rotierenden Armen einer Galaxie lesen lassen. Als Margaret Wertheim erfuhr, dass die Mathematikerin Daina Taimina 1997 ausgerechnet das Häkeln als ideales Medium für die Umsetzung der hyperbolischen Geometrie erkannt hatte, witterte sie die Gelegenheit zur Verbindung zweier sehr unterschiedlicher Passionen: höherer Mathematik und profaner Handarbeit. Die Materialisierung des hyperbolischen Raumes – der geometrischen Entsprechung negativer Zahlen – mit Hilfe der Häkelnadel ist umso erstaunlicher, als Mathermatiker seit der Entdeckung dieser zunächst undenkbaren Sphäre durch den Ungarn Janos Bolyai in den 1820er und kurz darauf durch seinen russischen Kollegen Nicholay Lobatchevsky um seine physische Darstellung gerungen haben. Henri Poincaré entwickelte vor mehr als hundert Jahren ein verführerisch ornamentales Scheibenmodell, und Computer können diesen nicht-euklidischen Raum visualisieren, den Tschaina als das Gegenteil einer Kugel definiert: während sich bei einem Ball die Oberfläche in sich selbst krümmt und geschlossen ist, biegt sich die hyperbolische Ebene an jedem Punkt ihrer rapide expandierenden Oberfläche von sich weg. Mit der Möglichkeit exponentiell zunehmender Maschen bietet das Häkeln die wohl effizienteste dreideimensionale Demonstration dieses ungebärdigen Phänomens.
Ein Exemplar aus der Verbindung zweier sehr unterschiedlicher Passionen: höherer Mathematik und profaner Handarbeit
Daina Taiminas gehäkeltes Exempel der hyperbolischen Ebene befindet sich in der Sammlung mathematischer Modelle des Smithonian. Die Krause aus roter Schafswolle ist kaum von den Seekreaturen der Wertheimschen Meereslandschaft zu unterscheiden – kein Wunder, denn mit ihren extravaganten Schnörkeln, Windungen und Rüschen sind Korallenriffe lebende Inkarnationen jener geometrischen Realität, deren potentielle Existenz Mathematiker jahrhundertelang an den intellektuellen Abgrund trieb. Noch Bolyais Vater flehte seinen Sohn an, vom Studium dieses unheilbringenden Gegenstandes zu lassen. “Johann Carl Friedrich Gauss hatte den hyperbolischen Raum schon vor Bolyai gefunden, seine Entdeckung aber verschwiegen, um nicht für verrückt erklärt zu werden”, sagt Margaret Wertheim .“Die Natur arbeitet dagegen seit dem Silur mit hyperbolischen Formen, insbesondere im Meer, wo Schwämme, Korallen und andere immobile Geschöpfe mit ihren gekräuselten Oberflächen optimal Nahrung einfangen können.” Es ist jedoch noch nicht lange her, dass Mathematiker gewellte Salatblätter und die wallenden Leiber von Seeschnecken zu ihren Forschungsobjekten machten - nicht nur fehlten die erforderlichen Instrumente, sondern man hatte ihre scheinbar amorphe Gestalt gar nicht unter der Linse der Geometrie betrachtet. Der Computer hat den hyperbolischen Raum dann allerdings vor allem für die Unterhaltungsindustrie erobert: Im Animationsfilm werden Haut und Kleider der Figuren nach seinen Gesetzen über das Skelett von Gesicht und Körper der Kunstfiguren drapiert. “Das ganze Feld der Geometrie hat in den letzten 15 Jahren allein wegen der Computeranimation eine große Renaissance erlebt”, sagt Wertheim.
Das Konzept negativer Zahlen hatte im 16. Jahrhundert unter Denkern eine ähnliche Krise wie der hyperbolische Raum ausgelöst, doch die Geldwirtschaft verhalf ihnen schließlich zur Akzeptanz: die sehr konkrete Möglichkeit von Schulden warf Licht auf die Schattenwelt des Minus. “In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es im Anschluß an die Erfassung des hyperbolischen Raumes zu einer Explosion von Entdeckungen bizarrer mathematischer Gebilde wie den imaginären und vierdimensionalen Zahlen, die keine Entsprechung in der sinnlichen Wirklichkeit zu haben schienen”, erklärt Margaret Wertheim. “Augustus Demogen erklärte bald darauf die Mathematik zur Wissenschaft der Symbole, die keine Verankerung in der Welt besitzen.” Sein jüngerer Mitarbeiter Charles Dodson alias Lewis Carroll badete in der Freiheit des neu gegründeten Feldes mathematischer Logik und erlaubte seiner roten Königin in “Alice im Wunderland”, noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge zu glauben – ganz wie seine Kollegen.
Margaret Wertheim verliebte sich früh in das Spiel mit den Zeichen in einer Sphäre, die von ihrer eigenen, unumstößlichen Ordnung regiert wird:
“Als Studentin fühlte ich mich vom platonischen Reich der Ideen als Antidot zum Chaos der Welt unwiderstehlich angezogen. Wenn man mathematische Beweise liest, ist es, als würde man den Engeln bei der Arbeit zusehen – es reicht, um an Gott zu glauben.” Stephen Hawking hat dann mit seinem vielzitierten Satz, dass wir Gottes Gedanken begreifen, wenn wir die Theorie von Allem verstehen, in den letzten zwanzig Jahren die Vorstellung des Schöpfers als Mathematiker popularisiert und – vielleicht ungewollt - zu einem religiösen Mystizismus in der Wissenschaft beigetragen. Doch Margaret Wertheim , die 1995 in ihrem Buch “Pythagoras’ Trousers” das innige Verhältnis von Religion und Physik untersuchte, zählt sich zur winzigen Minorität abtrünniger Platonisten, die Mathematik als ein menschengemachtes System und nicht als a Priori Reich kristalliener Ideen betrachtet.
“Nahezu alle Aktivitäten des IFF sind von der Überzeugung getrieben, dass sich die abstrakten Konzepte, die unsere Kultur mit rein symbolischen Mitteln lehrt, auch materiell einbinden lassen,” beschreibt Margaret Wertheim die Vision ihres unabhänigigen – und unterfinanzierten – Instituts. Während Christine Wertheim, die am California Institute For the Arts experimentelles Schreiben unterrichtet, für die Komposition Tausender gehäkelter Unterwasserwesen zum Korallenriff verantwortlich ist, demonstriert ihre Schwester die exquisite Schönheit der Mathematik beispielsweise anhand von Knoten und Origami. Die Knotentheorie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre das Verständis der DNS, von Proteinen und Polymeren voranangetrieben – und zugleich einen Bilderkatalog faszinierend komplizierter Verschlingungen angelegt. Das IFF präsentierte die Arbeit des Physikers und Computeorigami Pioniers Robert Lang, der nicht nur Riesenobjektive für Weltraumteleskope in raketengerechte Formate und medizinische Implantate für die Reise durch Arterien zusammengefaltet hat, sondern auch für seine naturgetreu aus einem Blatt Papier gezauberten Insekten berühmt ist. Die kriechenden, hüpfenden, rollenden und schleichenden Phantasiekreaturen, die gewiefte Computerfreaks mit Hilfe der Software sodaconstructor “aus dem virtuellen Schlamm” zum Leben erweckten, dienen Margaret Wertheim mit ihrem exzentrischen Charme als weiterer Beweis für die unendliche Vielfalt mathematischer Manifestationen im ästhetischen Bereich. Das IFF wurde vor allem aus der Frustration heraus geboren, dass die eher konservative Wissenschaftsszene den Schöpfungen eines solchen intellektuellen Spieltriebs kaum Aufmerksamkeit schenkt.
Maritime Wunderwesen aus Wolle, geboren aus einem intellektuellen Spieltrieb
Für Margaret Wertheim ist Einsteins Formel e=mc2 das eleganteste mathematische Objekt überhaupt; die Symmetrie zwischen positiven und negativen Zahlen mit der Null als Bindeglied empfindet sie als atemberaubend und die Ausweitung dieses perfekten Balanceaktes in die Geometrie hinein als magisch. “Mathematik ist die Sprache der Muster, sie artikuliert Regelmäßigkeit und Ordnung. Mathematiker sind Poeten, die mit ihrem speziellen Bausatz von Symbolen Gedichte schreiben. Dabei entstehen Muster von großer Schönheit, und zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit”, meint sie. Doch nicht alle Schönheit kommt aus der Ordnung, sondern sie blüht auch im Chaos. Nicht umsonst also ist das IFF mangels einer offiziellen Straßenadresse im Seepferdchental des Mandelbrot Sets, der höchst attraktiven Ikone der Chaostheorie, angesiedelt, Die wiederum liegt auf der sogenannten “komplexen Ebene”, einem mathematischen Raum an der Kreuzung zwischen realen und imaginären Zahlen. Margaret Wertheim ermutigt Gleichgesinnte, sich in dieser interessanten Nachbarschaft niederzulassen – es ist noch jede Menge Platz.
Claudia Steinberg
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