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Friday, August 28, 2015

New York - “Pocket Utopia” - ein Salon als soziale Skulptur und Ausstellungsort von Austin Thomas

Sechs Stationen mit dem L-Train von Manhattan taucht die Skyline nur gelegentlich als vertraute Kulisse hinter Bushwicks horizontaler Geographie von Lagerhäusern, Manufakturen und niedrigen Häuserzeilen auf. Seit Williamsburg mit dem neuen Millenium die Künstler, die das verwaiste Viertel in den letzten zwei Dekaden urbar gemacht hatten, weiter in die verarmten Niemandslandschaften von Brooklyn vertrieb, haben die Exilanten der Immobilienspekulation hier unter lateinamerikanischen Immigranten eine Heimat gefunden. Wo Pioniere noch vor zehn Jahren ihre Lebensmittel an der Tankstelle Ecke Bushwick und Flushing Avenue kaufen mußten und nur Rudel streunender Hunde die desolaten Straßen belebten, gibt es heute gepflegte Bioläden, Restaurants und Galerien. Gigantische Wandmalereien auf den Fassaden ehemaliger Fabriken markieren die jedoch nach wie vor schäbige Gegend als Künstlerterritorium. Mit ihrem nur zwei Jahre aktiven, aber höchst einflußreichen Alternativraum namens “Pocket Utopia”, einem Salon, der sich ebenso als Ausstellungsort wie als “soziale Skulptur” verstand, bot die Künstlerin Austin Thomas 2007 der versprengten Künstlergemeinde eine der ersten Anlaufstellen. Mehr als zwanzig Ausstellungräume gibt es inzwischen in Bushwick, zum Teil mit eigenwilligen Namen wie Laundromat, Small Black Door, Sugar, Temporary Storage oder Famous Accountants, die sich explizit von den Chelsea Brands absetzen.

So verkündet die blaue Markise über der Bushwick Storefront Galerie auch noch immer “PM Taxes” und lockt Leute an, die Hilfe mit ihrer Steuererklärung suchen. Doch Deborah Brown hat den winzigen Raum vor zwei Jahren in ein makellose “White Box” verwandelt, wo sie kleinformatige Arbeiten von Künstlern unterschiedlicher Jahrgänge zeigt: Maler ihrer eigenen Altersgruppe wie Cathy Quinlan, die Stillleben in der Tradition Morandis zur Grundlage weiterer Abstraktion macht, oder Houston Ladda, der Anfang der 80er Jahre mit spektakulären Trompe L’oeils in der South Bronx auf der Bildfläche erschien, stellen hier mit Nachwuchskünstlern wie Gary Petersen und Halsey Hathaway aus.”Das Bushwick-Publikum kennt nur junge Künstler, und ich habe mich bei meinem Programm auf einen Dialog zu verwandten Themen über die Generationen hinweg spezialisiert”, erklärt die gebürtige Kalifornierin, die sich als “Cheerleader für Bushwick” bezeichnet. Wie die meisten Galeristen der Gegend ist sie selbst auch Künstlerin und stellt ihre Bilder - von ihrem urbanen industriellen Umfeld inspirierte und ins Surreale fließende Gemälde - in Manhattan aus.

Kate Levant
Untitled, 2013


An der Peripherie des “Greater Bushwick Area” verfolgt Fred Valentine, Künstler und Mitbegründer des legendären Williamsburger Avantgarde-Raumes “Galapagos”, in seiner Galerie seit letztem Sommer eine ähnliche Strategie generationsübergreifender Ausstellungen. Jane Dickson, die einmal bei Marlborogh zeigte, ist bei ihm ebenso willkommen wie Anthony Martin, der Lightshows für Gruppen wie Jefferson Airplane inszenierte und heute Avantgarde Videos produziert. “So viele Künstler sind es leid, vergeblich an die Pforten der Chelsea-Galerien zu klopfen”, sagt Adam Simon, ein Veteran der Bushwick Szene, der zur Zeit seine auf Schablonen von Werbefotos basierenden Graphitzeichnungen bei Valentine zeigt. Und wo sonst würde ein Galerist den Künstler bei der Arbeit an einem sitespezifischen Bild bis zu dessen Fertigstellung tagelang mit Geschichten unterhalten? Die Atmosphäre in dem kleinen Raum mit seiner einladenden Sitzgruppe gleicht einem Wohnzimmer, doch in einer Nische gibt es sogar einen Gift Shop wie im Museum, wo kleine Kunstwerke unter tausend Dollar zu haben sind. “Man kann hier verdienen, aber natürlich kein Chelsea-Geld “, sagt Fred Valentine, als handelte es sich um eine gänzlich andere Währung. 



Jonathan VanDyke 

Niemand verkörpert den kommunalen Geist der Bushwick Kunstszene besser als der Tänzer und Kurator Jason Andrew, der 2008 sein Apartment in die non-profit Galerie Norte Maar transformierte. Wie fast alle Kunstschauplätze der Gegend ist auch Andrews Ausstellungsraum nur an Wochenenden geöffnet, denn die meisten Künstler-Galeristen sind auf normale Jobs angewiesen. Zur Vernissage drängen sich dann Hunderte von Besuchern durch den engen, labyrinthischen und von Essensdünsten durchzogenen Flur in die Wohnung, wo auch Küche und Schlafzimmer zugänglich ist. Anläßlich des hundertsten Geburtsjahres von John Cage veranstaltet Andrew, der bis vor kurzem auch als Partner in der Storefront Gallery Ausstellungen organisierte, 2012 jeden Monat eine Performance auf der Basis der Vorträge und Schriften des Visionärs . Der Maler, Kunstkritiker und Doktor der italienischen Literatur Paul D’Agostino, der bei seinem Freund und Kollegen Andrew gegenwärtig seine eleganten Monoprints abstrahierter Landschaften zeigt, stellt ebenfalls seit 2008 sein eigenes bescheidenes Domizil mit ebenbürtiger Großzügigkeit als Galerie unter dem Namen Centotto zur Verfügung. Noch besitzt die Bushwick-Szene die Verflochtenheit einer verschworenen Außenseitergemeinde, auch wenn sich im Parterre eines prächtigen Fabrikgebäudes an der Bogart Street kürzlich Galerien im Chelsea-Format ansiedelten. Die Eröffnung eines Außenpostens der Blue Chip Galerie Luhring Augustine in ihrem langjährigen Lagerhaus in Bushwick im Februar versetzte die Nachbarschaft in Aufruhr, Podiumsdiskussionen erörterten den potentiellen Untergang des antikommerziellen Paradieses - bis zur Endstation des L-Trains gibt es noch jede Menge künstlerisches Brachland. 

Claudia Steinberg