Mit jeder Windung der Straße, die sich nach Sils Maria hochschraubt, kreisen die Alpengipfel ein wenig schwindelerregender, ein wenig aufregender um einen herum. Noch eine Kurve, und der Silser See – ein Spiegel aus kobaldblauem Glas – blitzt auf. An dessen Ufern notierte Thomas Mann mit gebührender Verwunderung über seine selten heitere Stimmung, “ich glaube beinahe, ich bin hier glücklich.” Zweimal wohnte er Mitte des letzten Jahrhunderts in der weißen Hotelburg, deren Zinnen plötzlich aus dem Kiefernwald auf dem zweithöchsten Berg des Ortes auftauchen – 1800 Meter über dem Meeresspiegel ist die Aussicht in alle Himmelsrichtungen gleich schön und die Windbedingungen freudlicher als am höchten Punkt, so dass man das Hotel Waldhaus früher einmal die “Kaiserloge” nannte.
Schon öffnet der Portier die hohen Glastüren, und an der Rezeption stellt sich der Concierge mit Handschlag und Vornamen vor. Martin, ein kantiger Mann mit der leicht einschüchternden Effizienz eines Fünf-Sterne-Generals der Hotellerie, erledigt die Formalitäten in kürzester Zeit, um die Gäste dem eigentlichen Empfangskommittee zu überantworten: wie bei jeder An- und Abreise im Waldhaus stehen auch jetzt zwei Mitglieder der Familie, die das mythische Grand Hotel im oberen Engadin seit fünf Generationen betreibt, zur Begrüßung im Foyer. Und wie immer wissen Urs Kienberger und Maria Dietrich Namen und Herkunftsort der Neuankömmlinge sowie ein paar weitere Details, die eine zweiminütige Konversation mühelos tragen. Im Hintergrund öffnet sich ein heller, großer Raum, wo vereinzelte Gäste ihre Zeitungen wie Schutzschilder vor die Gesichter halten. Von irgendwo her schweben einem die Klänge einer virtuosen bespielten Geige mit Klavierbegleitung entgegen – endlich angekommen!
Kristen Stewart, Olivier Assayas, Chloe Grace Moretz und Juliette Binoche präsentieren “Die Wolken von Sils Maria” beim 67. Filmfestival in Cannes.
(picture alliance / dpa / Foto: Hubert Boesl)
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“Endlich in Sils-Maria!”, hatte Friedrich Nietzsche 1884 an einen befreundeten Autor geschrieben, “Endlich Rückkehr zur – Vernunft!” Vom Zimmer im zweiten Stock, den Silser und den Silverplaner See zu Füßen und die Wolken auf Augenhöhe, fühlt man sich der Welt entrückt, jedoch der Ratio weniger verpflichtet. Vielmehr möchte man sich gedankenlos dem Drama der dauernd wechselnden Cirrus- oder Cumulusformationen hingeben, sich einlullen lassen von den weichen Massen, mit ihnen über die zackigen Bergspitzen treiben. Mal bauschen sich die Wolken zu wuchtigen Gebilden, dann wieder nähern sie sich als zarte Schleier dem Fenster, wie ein scheuer Geist, der gleich wieder entschwindet.”
Juliette Binoche (l) als Maria Enders und Kristen Stewart (r) als ihre Assistentin Valentine
(picture alliance / dpa / Foto: Pallas Film/NFP Carole Bethuel)
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Dieses hypnotische Schauspiel hat den französischen Regisseur Olivier Assayas zum Titel seines neuen Films inspiriert, “Die Wolken von Sils Maria”, mit Juliette Binoche und Kristen Stewart. Die Abhandlung über das Wesen von Film und Realität sowie über Alter und Vergänglichkeit drehte der Ingmar Bergmann-Anhänger nicht nur vor der idealen Kulisse ewiger Berge und ephemerer metereologischer Erscheinungen, sondern auch im Waldhaus. Nachträglich berichtete der Hotel-Chronist Urs Kienberger in seinem subtilen Stil über die dreitägigen und -nächtigen Dreharbeiten, die zu seiner Erleichterung den feinkalibrierten Hotelbetrieb bei aller Intensität nicht aus dem Gleis bringen konnte.
“Nach einer Nacht hat man das Waldhaus noch nicht verstanden”, hat Urs Kienberger gewarnt, als handele es sich bei dem Hotel um eine geheimnisvolle Maschinerie. Jedenfalls merkt man mit Erstaunen, dass am nächsten Morgen, wenn die Etagenportiers gerade die Schuhe geputzt haben und der kultivierte Geruch der Politur in den Gängen hängt, noch gar keine Lust besteht, an die berühmte “trockene Champagnerluft” zu gehen.
Vielmehr strömt ein spürbarer Magnetismus von der Bibliothek aus, wo man schon kurz nach dem Frühstück auf stille Gesellschaft trifft - der gesprächige, aber anonyme Herr vom Vorabend, der im Flugzeug lebt und sich einen Monat Waldhaus verordnet hat, “ohne Bewährung”, sitzt bereits an einem der kleinen Schreibtische mit den elegant gedrechselten Beinen, schweigsam wie ein Trapistenmönch. Nichts als das Rascheln von Zeitungspapier und Buchseiten ist hier zu hören, außer der inneren Stimme, die zur Konzentration gemahnt, schließlich haben zwischen diesen Büchervitrinen auch Einstein, Thomas Bernhard und Alberto Moravia gelesen, geschrieben, gedacht.
Gegen Mittag ist mit Sonnenstrahlen, die wie in einem Renaissancegemälde durch die Wolkenberge stoßen, auch der Bann des Hauses für eine Weile gebrochen, ein Spaziergang durch den wie in einem Kinderbuch mit Margeriten und Lupinen übersähten Wald muß sein. Man trifft Urs Kienberger auf dem täglichen Rundgang durch sein Revier, das offenbar nicht auf das Hotelgrundstück begrenzt ist.”Es hat jeder seine Leidenschaften”, und spricht von den kleinen Mißständen, die nur ihm auffallen: die falsch eingestellte Saalbeleuchtung, der ungeschickte Faltenwurf eines Vorhangs.
Schließlich sind Urs Kienberger und sein Bruder Jürg im Waldhaus aufgewachsen, und zwar in den kargen fünfziger Jahren, als auf das Januarloch nach den Heiligen Drei Königen, wo 17 Köche, 15 Kellner, die Etatengouvernatnte, der Nachtportier, die Kaffeeköchin, der Kellermeister, die Hausdame sowie eine Reihe weiterer Angestellter vielleicht sieben Gäste versorgten, die Zwischensaison folgte: “Das ganze Haus wurde entleert, das galt auch für die Wasserleitungen und Heizungen, nur in den Privatwohungen und den Büros wurde geheizt - sie waren wie eine Insel im Hotel”, erinnert sich Urs Kienberger, überall sonst herrschten Minustemperaturen. “Wir Kinder durften überall springen und spielen und lachen.” Sogar Fahrradfahren, mit Schal und Handschuhen, auf den hundert Meter langen Fluren und in den ausgeräumten Sälen war erlaubt, und in der Hotelhalle war ein Federballnetz aufgestellt. Während der Saison galten jedoch strenge Regeln: zwar sollten der Hotelnachwuchs mit den Kindern der Gäste spielen und an allzu stillen Tagen auch den Speisesaal mit Freunden einwenig auffüllen, doch wer sich eigenmächtig an der Bar einen Syrup ausschenken ließ, musste hungrig schlafen gehen.
Die Zeit, da der Fürst Marco Borghese mit einem Anhang von acht Personen sowie einem Gepäckgebirge von alpinen Dimensionen anreiste und für die gesamte Sommersaison sieben Zimmer belegte, waren auch schon zu Urs Kienbergers Kindheit längst vorbei. Heute kommen mehr Besucher, doch ist der durchschnittliche Aufenthalt von damals drei auf eine Woche geschrumpft, und mit Bediensteten reist nur noch eine verschwindende Minderheit - auf der Tafel in der Hotelkasse, die jeden Gast aufführt, ist aber sicherheitshalber immer noch eine Sparte für mitreisendes Personal reserviert. Das Karussell der ankommenden und abfahrenden Menschen dreht sich immer schneller, und so wird das stoisch beibehaltene Begrüßungs- und Abschiedsritual mit jedem Jahr zeitraubender: “Wenn wir zweihundert Gäste haben und jedem zwei Minuten geben, dann kommt das auf etwa sieben Stunden”, hat Urs Kienberger, ein in Amerika ausgebildeter Ökonom, errechnet. Auf Sommer und Wintersaison verteilt, steigen zehntausend Personen im Waldhaus ab, viele nur für ein Wochenende.
Die meisten aber kommen seit eh und je immer wieder: Otto Klemperer - 10x; Theodor W, Adorno - 12x; Hermann Hesse - der besitzergreifend die Silser Landschaft als “schicksalhaft mir zugedacht” betrachtete - 13x, die Prinzessin Aicha Aziza Hassan logierte über sechzig Mal im Waldhaus. Der deutsche Künstler Jonathan Meese taucht alljährlich in Begleitung seiner Mutter auf und transformiert das Badezimmer seiner Suite zum Atelier: “In der Antirealität Sils Marias”, so schrieb er in der Zeit, “ist der Mensch radikal Mensch. Hier ist unsere Hilflosigkeit kein Makel. Danke, Sils!” Als das letzte hoteleigene Ensemble trägt das Farkas-Trio, das seit den 70er Jahren den Nachmittagstee begleitet und abends in der Bar Tanzmusik spielt, sicherlich zur Treue der Gäste ebenso bei wie die in der Fenchel-Tomaten-Kraftbrühe schwimmenden Safranfäden und die mit madagaskischen Bohnen bereitete Vanillecreme. Aber eigentlich geht es um die Fürsorglichkeit, die jedem hier zuteil wird. “Jeden Morgen trifft sich die Familie im Privé zur Besprechung”, erklärt Patrick Dietrich, der seit 2010 mit seinem Bruder Felix die Leitung des Familienbetriebs übernommen hat. “Über die Besonderheiten und speziellen Wünsche eines jeden Gastes wird Buch geführt.” Wer also ein Hirse- oder Roßhaarkissen einem Federkissen vorzieht, wird es auch beim nächsten Besuch auf seinem Bett vorfinden, Ebenso weiß die Küche schon im Voraus, was der Gast zum Picnic mit in den mit Besteck, Tellern, Bechern und Eiswürfeln ausgestatteten Waldhaus-Rucksack nehmen will.
Noch wichtiger ist es vielleicht, den Gästen die Illusion ihrer eigenen Umgänglichkeit und Unkompliziertheit zu belassen, an der sie zu hängen scheinen: “Die meisten sagen uns ganz großzügig, ach, Sie können uns eigentlich jedes Zimmer geben, nur das vom letzten Mal, das mit der Terrasse, das fanden wir ein wenig ungemütlich. Schön wäre eines in der obersten Etage, idealerweise mit Blick nach Westen, und bitte nicht wieder das in der Nähe vom Eingang. Und einmal hatten wir eines mit einer grünen Tapete, das war gar nicht unser Stil,...” So beschreibt Urs Kienberger den typischen, hoch geschätzten Gast. Für Pierre Petrov aus Paris kam in den 60er Jahren ganz ausdrücklich nur ein Zimmer in Frage: das seiner verstorbenen Frau Olga. Dort wollte auch er sterben, und seine Urne ist in der katholischen Kapelle im Keller des Hotels gemeinsam mit der seiner Gattin bestattet. Testamentarisch lud er seine besten Freunde zu Aufenthalten im Waldhaus auf seine Kosten ein, so dass er sich nicht so allein fühlen mußte.
Dass es heute ein “provozierend altmodisches Hotel” sein darf, wie Urs Kienberger sich ausdrückt, verdankt das Waldhaus unter anderem den chronischen finanziellen Schwierigkeiten der ersten Besitztergenerationen. Nach langjähriger Erfahrung als Leiter des eleganten Badehotels du Lac in St. Moritz, wollten Josef Giger und seine Frau Amalie ihre eigene Vision eines hochmodernen Grand Hotels verwirklichen. Das Paar ging systematisch vor und ermittelte die beste Position für ihren Bau mit Hilfe von Gerüsten auf verschiedenen Gipfeln in Sils. Die bereits betagten Eheleute heuerten den renommierten Architekten Karl Koller an, der ihnen einen effizienten und für damalige Verhältnisse eher nüchternen Bau mit Jugendstileinschlag bescherte. Der wurde mit der Avantgarde-Technologie der Ära ausgestattet: mit einer elektrischer Klimaanlage, Enstaubungsanlage, einem hydraulischen Lift, der mit einem Springbrunnen draußen korrespondierte, mit Kartoffelschälmaschine, Mandelreibmaschine, und elektrischer Messerputz Maschine.
Nach nur zweieinhalb Jahren Bauzeit - trotz der langen Winterpausen und des Automobilverbots im Engadin, so dass alles Material mit Pferden transportiert werden mußte - stand Josef Giger am 15. Juni 1908 im Gehrock und Zylinder am Eingang und empfing die ersten Gäste, ein aristokratisches Paar aus Deutschland. Die Schweiz war das beliebteste Reiseziel der Belle Epoque, “ im Tourismus war alles möglich, wie in Dubai”, sagt Kienberger. Das alles kam mit ersten Weltkrieg zum Stillstand, und die ersten Lichtblicke machte die Weltwirtschaftskrise zunichte: so lehnen in dem zu einem kleinen Museum verwandelten Keller des Waldhaus Dutzende Skierpaare an einer Wand - ihre Besitzer kamen nach dem ökonomischen Kollaps nie wieder. Erst in den frühen siebziger Jahren erholte sich das Waldhaus mit dem Anbau eines Schwimmbads von den Kalamitäten des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts. Doch da war die Zeit der großen Modernisierungen schon vorbei, und die Familie entschied sich zur unsichtbaren Investition von zwei bis drei Millionen Dollar pro Jahr, um den Komfort zu heben und die alte, strenge Schönheit zu halten.
Das Haus versteht sich weder als förmlich noch als mondän, Urs Kienberger wünscht sich die Atmosphäre eines eleganten Privathauses, nicht die eines prunkvollen Palastes. Die Bankierswitwe am Nebentisch des von den 70er Jahren leicht gezeichneten Restaurants - die an eine Scheibe Gletschereis erinnernden Kristallwandleuchten haben schon definitiv ein Vintage Flair - verbringt ihren fünften Sommer allein im Waldhaus: “Es ist wie kein anderes Fünf-Sterne-Hotel”, meint die weltgereiste, in der Luxuskategorie versierte Dame. “Der Begriff, der es für mich definiert, ist Understatement.” Keine Abendroben, zum Beispiel. “Wir haben Kinder und alte Leute, man kann stricken und sich streiten, nur telefonieren kann man nicht - das ändert den Ton in einem Raum auf eine erstaunliche Weise”, erklärt Urs Kienberger die Entscheidung, seine Gäste für Telefonate in kleine Kabinen zu schicken, die ein wenig an einem modernen Beichtstuhl erinnern.
Und noch etwas kann man im Waldhaus nicht: Shopping. Man sucht vergeblich nach unterirdischen Einkaufsmöglichkeiten wie im Peninsula oder im Plaza, aber über ein paar Postkarten im Kiosk des Schwimmbads reicht das Angebot kaum hinaus. Auch im Ort selbst gibt es kaum Gelegenheit zu materieller Befriedigung. Dafür aber mangelt es nicht an intellektuellem Angebot: das Nietzsche Haus, in dem er in den Jahren 1881 bis 1888 zunächst aus Gesundheitsgründen jeden Sommer bis auf einen verbrachte, besitzt eine Bibliothek mit sämtlichen Erstausgaben und zahlreichen Dokumenten und Bildern des Philosophen. Sein Zimmer war das dunkelste in einem schattigen, an einen Berghang gelehnten Haus, was seiner Migräne half. In seiner sogenannten “Höhle” verfiel er dann in einen Schaffensrausch, der einer Erleuchtung angesichts eines pyramidenförmigen Felsens am Silverplaner See bei Surlej folgte: hier kam ihm sein schwerster und wichtigster Gedanke von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Der ewig insolvente Nietzsche konnte Sils, wo man ihn wie einen Prinzen behandelte, nichts als “das Geschenk eines unsterblichen Namens” machen. Andere Namen haben sich im Gästebuch hinzugesellt - Alexander Kluge, Gerhard Richter, Jonathan Meese, dessen Eintrag von diesem Juli nur schlicht konstatiert “Nietzsche ist Chef.” Das Waldhaus entstand nach seinem Tod, doch widmet es ihm jedes Jahr ein Kolloquium.
“Ganz Zeit ohne Ziel” hatte Nietsche in Sils erlebt, und diesen Schwebezustand wünscht die Direktion des Waldhaus auch ihren Gästen. Doch selbst ziellose Zeit vergeht wie im Flug, und schon stehen Urs Kienberger und Patrick Dietrich im Foyer. Ist das nun vielleicht die achtzehntausendfünhundertzweiundzwanzigste Abschiedsminute des Jahres? Lieber, man macht es kurz.
Claudia Steinberg
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