Ein einziges Schild kündigt den Grenzübergang nach Mexiko auf der Interstate 5 kurz nach San Diego an, und ohne Paßkontrolle schwimmt man schon ein paar Minuten später im Verkehrsstrom ins Zentrum von Tijuana, während auf der Gegenspur eine lange Autoschlange dem von tausend Kameraaugen bewachten Norden entgegenkriecht. Dentistas und Farmacias buhlen mit gigantischen Werbetafeln um die Aufmerksamkeit von US-Touristen, die hier billig neue Zähne und verschreibungspflichtige Medikamente erwerben können. An den Ampeln vertreiben junge Akrobaten in der Hoffnung auf Kleingeld den wartenden Autofahrern die Zeit mit einer kleinen Show, andere Opportunisten nutzen die Sekunden, um Orangen, Spargelbündel oder einen Karton makelloser Erdbeeren zu verkaufen. Überall steigt Rauch von den Kohlefeuern der Streetfood-Stände auf, die immer noch wie vor zehn Jahren einen Taco für zehn Pesos verkaufen.
Javier Plascencias |
Hinter den Panoramafenstern von Javier Plascencias elegantem Restaurant Mision 19 wird das Chaos von Mexikos drittgrößter Stadt zur Kulisse für den Auftritt kühn inszenierter Gerichte, die wie UFOs aus weißem Porzellan vor den ehrfürchtigen Gästen landen: in einer tiefen Schale liegt der Schnörkel eines gerösteten Oktopusarms auf ein Pistazienpesto gebettet, und eine Cremesuppe aus drei verschiedenen Muschelarten schwebt in einer Urne, unter deren Kuppel eine Wolke von Mesquiterauch gefangen ist, auf den Tisch. Der 45-jährige Chefkoch eröffnete sein minimalistisches Lokal vor zwei Jahren im erstem “grünen” Hochhaus der von Abgasen vergifteten Stadt unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem kalifornischen Exil: als das Tijuana Drogenkartell 2006 zerfiel und die Machtkämpfe zwischen den einzelnen Fraktionen bis zu 200 Todesopfer pro Monat forderten, floh Plascencias mit seinen Brüdern Juan José und Julian nach San Diego und machte dort ein Restaurant für andere heimwehkranke Tiuaneros auf. Kaum übernahm jedoch ein noch größeres Kartell aus Sinaloa die rivaliserenden Splittergruppen und stiftete so einen fragilen Frieden, sah Javier Plascencia die Zeit für seine Vision gekommen, seine Heimatstadt in ein Gourmet-Mekka zu verwandeln.
Restaurant Mision 19 |
Noch glich Tijuana einer Geisterstadt – die Souvenirarkaden im Zentrum waren verwaist, die Touristenkneipen geschlossen. Eines Tages hörte Javiers Vater Juan José Plascencia Sr., ein ehemaliger Fabrikarbeiter, der 1969 die erste Pizzeria in ganz Mexiko gründete und darauf ein Restaurantimperium aufbaute, dass die Möbel des berühmten Caesar’s auf dem Bordstein der Avenida Revolution standen – die Pächter des holzgetäfelten Restaurants aus den 20er Jahren, wo ein italienischer Immigrant den vermeintlich nordamerkanischen “Caesar Salad” erfunden hatte, waren pleite. Señor Juan José alias Don Tana ergriff die Gelegenheit und verleibte das ehrwürdige Etablissement, in dessen Geschenkladen schon seine Mutter Parfum verkauft hatte, dem Familienkonsortium ein. Dazu zählt auch die Villa Saverio’s in einem 5000 Quadratmeter großen Palazzo mit römischen Säulen, wo der Bürgermeister gern Lachs mit Mangoschaum und Alfalfasprossen genießt und die gehobene Mittelklasse ihren Kindern luxuriöse “Quinceanera” Partys zum 15. Geburtstag ausrichtet. Als junger Koch offerierte Javier Plascencia dort den Tijuaneros in den 90er Jahren den ersten Cappuchino und die erste Kaviarpizza der Stadt. Wie im liebevoll renovierten Caesars, wo ein sogenannter “Ensaladero” nun wie früher das Signaturgericht des Hauses vor den Gästen zubereitet, bekommt auch bei Saverio’s die Polizei einen Rabatt – schließlich kennt Don Tana, der wie seine Söhne im feinen Chepultepec Viertel wohnt, Tijuana noch aus einer Ära, als die “Sin City” vergnügungssüchtige Kalifornier mit Pferderennbahn, Casinos, Bordellen und Hochzeitskapellen über die Grenze lockte.
Im Cesars Hotel wurde der Original Cesar's Salad erfunden |
Drei bis vier Mal pro Woche besucht Javier Plascencia den Hidalgo Mercado, wo selbst er noch immerEntdeckungen macht. Aufgeregt fotografiert er mit seinem Smart Phone eine seltene Variation der Passionsfrucht und ihm bisher unbekannte Yurimuni, eine Bohnenart aus Sonora – noch am selben Abend werden die kleinen Hülsenfrüchte zu einem Mus mit Miniaturkarotten verarbeitet. Frischer Huilacoche, ein parasitärer Fungus der Maiskolben, wird in Kombination mit einem Risotto ebenfalls auf der Speisekarte stehen: “Das sind die Trüffel Mexikos”, erklärt Plascencia und inhaliert mit Genuß den starken Anisduft eines zerriebenen Avocadoblattes. Die meisten Früchte und Gemüsesorten hier stammen ebenso wie der Käse, die Nüsse und die Süßigkeiten aus dem Valle de Guadalupe, einer Region südlich von Encenada, die auch mit einem idealen Klima für den Weinanbau gesegnet ist. “Früher haben wir alles, vom Fisch bis zum Honig, in die USA exportiert, heute kreieren wir daraus unsere eigene Küche”, sagt Plascineca. Wie andere prominente Kollegen ist er ein Verfechter der “Locovore”-Philisophie, wobei er unter “lokal” einen Radius von rund 150 Meilen versteht: von dem Fischerdorf La Quinzia bis nach Los Angeles. Gastarbeiter aus China, die hier Anfang des 20. Jahrhundert die Eisenbahnschienen verlegten, haben der Stadt die meisten chinesischen Restaurants in ganz Mexiko beschert – Dim Sum ist ein Sonntagsritual vieler Familien in TJ. Die Manager japanischer und koreanischer Firmen im ausufernden Industriegebiet importieren ihre eigene Cuisine, und nicht zuletzt bringen an der Grenze gestrandete Migranten aus anderen Teilen des Landes ihre jeweiligen Rezepte mit.
Miguel Angel Guerrero |
Wenn der Markt mit seinen Habaneros, Xooconostle, Chayotes, Guayaba und Jalapeñas als Javier Plascencias Jagdrevier fungiert, so streift sein Mitstreiter Miguel Angel Guerrero durch ganz Baja, erlegt Wildschweine und Rehe in den Wäldern und Hasen und Havelinas in den Wüsten der Halbinsel. Im Januar unternahm er mit zehn Kumpanen und seinem 14-jährigen Sohn eine Motorradexkursion durch ganz Baja und tauchte im Pazifik mit Harpunen nach Doraden und Speerfischen. Von seinem Großvater erbte er in Rosarito ein paar Kilometer südlich von Tijuana eine 20 Hektar große Ranch, wo der zum Rechtsanwalt ausgebildete Jäger Hühner, Truthähne Ziegen und Schafe hält. Auf seinem Grundstück baut Guerrero, der zwei alten baskischen Familien – einer blaublütigen und einer ländlichen – entstammt und sich mit rebellischem Stolz als schwarzes Schaf bezeichnet – Kräuter, Tomaten, verschiedene Mikrosalate, Artischocken und Bohnen an, und in seinen Obsthainen wachsen Granatapfel- , Kirsch- und Feigenbäume. Lavendelbüsche lassen an die Provence denken, und mit dem Aroma brennender Olivenholzscheite in den Kaminen des dunklen, introvertierten Hauses tauchen Bilder der Toskana vor dem inneren Auge auf – nicht umsonst hat Guerrero seiner Küche das Markenzeichen “BajaMed” verliehen, während Plascencia seine Variante “Mexiterranian” taufte.
El Taller |
Guerreros erstes Restaurant, La Querencia, was so viel wie Heimat bedeutet, drückt die patriotische Liebe dieses großherzigen Mannes zu Baja aus: Guerrero, dessen Mutter immer ihre vier Kühlschränke bis oben gefüllt hatte und jederzeit auf unangemeldete Gäste vorbereitet war, hat die Wände mit seinen Jagdtrophäen behängt und den archaisch anmutenden Werkzeugen seines Großvaters einen Schrein über den selbstgebauten Herden und Öfen gewidmet. Aus dem unerschöpflichen Füllhorn seines Gartens bringt er seinen Köchen täglich frisch geerntete Gemüse – “sie sind immer nervös, weil ich das Menue grundsätzlich spontan zusammenstelle”, sagt Guerroro. Das gilt auch für sein neueres Lokal, das er El Taller – “die Werkstadt” - nannte, weil dort im Laufe der Jahrzehnte alle möglichen Dinge hergestellt wurden. Die mit dem Wellblech alter Schuppen von seiner Ranch verkleideten Wände zelebrieren die tief verwurzelte Kultur des Recycling – die Hälfte von Tijuana besteht aus wuchernden Siedlungen, die mit großem Erfindungsgeist den Abfall der Maquilladoras als Baumaterialien verwenden.
Guillermo Campos, genannt Oso – der Bär -, ist nicht nur Absolvent dieser experimentierfreudigen Institution, sondern der 28-jährige Tijuanero zog vor ein paar Jahren sechs Monate durch das Landesinnere und ließ sich in Dörfern von alten Frauen in die Geheimnisse der Maya- und Aztekenküche einweihen. Ausgerüstet mit diesem Wissen aus erster Hand eröffnete er vor einem Jahr seinen Fischtacostand Kokopelli, den er an der Ecke Ocampo und Elfter Straße in Downtown TJ parkt. Zwar ist sein nach dem spielerischen, flötespielenden Fruchtbarkeitsgott der Hopiindianer benanntes Miniunternehmen nur eines von Tausenden in dieser für ihr Street Food berühmten Metropole, doch hat Campos mit seinen prähispanischen Gewürzen eine treue Anhängerschaft gefunden – selbst die Arbeiter der Umgebung haben sich nach anfänglichem Erstaunen an Zutaten wie Achiote, einen roten, mit dem Mörser aus Vulkangestein pulverisierten Baumsamen als Marinade für den über Kohle gerösteten Schwertfisch gewöhnt. “Ich würde gern weiter Anthropologie studieren und Ingredenzien aus der präkolumbianischen Ära retten, die mit den alten Kulturen allmählich verloren gehen”, sagt Oso Campos. Mit seinem Bruder Pablo eröffnete er im November einen Kokopelli-Ableger in einer ehemaligen Autowerkstadt ganz nah am Strand, wo er ebenfalls Fingerfood für Gourmets serviert– Tintenfisch in Cilantropesto, Schwertfisch mit roten Chilis und Avocado, Lachs mit Thymian, Basilikum und Ahuehuete, aber auch Krabbensuppe und Limonaden aus Gurken, Minze, Limetten und Zucker.
Heute ist die Mordstatistik in Tijuana niedriger als die von Saint Louis, und die Leute gehen neuerdings spät abends essen, wie es in der mexikanischen Kultur üblich ist. “Sie tragen sogar wieder eine Armbanduhr”, sagt Don Tana. Feierwütige Collegestudenten aus San Diego sind in den neuen Lokalen, wo geschmacksintensive, pechschwarze Biere aus lokalen Brauereien angeboten werden, genauso wenig anzutreffen wie in der seit kurzem gut beleuchteten Zona Gastronomica – und sie werden kaum vermißt. “Ganz Mexiko hat Tijuana immer als Teil der USA verstanden, aber die USA haben sich damit kaum einverstanden erklärt,” sagt Miguel Angel Guerrero. In Pueblo oder Oaxaca, wo an den 500 Jahre alten Kochtraditionen nicht zu rütteln ist, wäre eine internationale Mischung wie in Tijuana nicht denkbar. “Wir erfinden hier unsere eigene kosmopitische Identiät, heute, in diesem Moment.”
Claudia Steinberg
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