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Tuesday, March 24, 2015

New York - Buchrezension: "Floating City: Gangster, Schlepper Callgirls und andere unglaubliche Unternehmer in New Yorks Untergrundökonomie"

Seit Sudhir Venkatesh vor sieben Jahren sein Buch über Drogenbanden in einer Chicagoer Sozialbausiedlung unter dem Titel “Gang Leader for a Day” veröffentlichte, ist der gebürtige Inder ein gern gesehener Talk Show Gast und oft gebuchter Redner - schließlich ist es für einen Soziologen eher selten, zu Crack Dealern wie den Black Kings ein freundschaftliches Verhältnis zu pflegen. Nun ist im Murmann Verlag Venkatechs “Floating City: Gangster, Schlepper, Callgirls und andere unglaubliche Unternehmer in New Yorks Untergrundökonomie” erschienen. Auch in diesem Falle ist der Columbia University Professor, der als Autor wissenschaftlicher Untersuchungen über das amerikanische Ghetto und die Überlebensstrategien der Armen einen guten akademischen Ruf genießt, tief in die geschäftige Schattenwirtschaft der Metropole eingetaucht  - ein Feld, das bisher in erster Linie Kriminologen als Studienobjekt diente. Doch der anpassungsfähige Forscher, der in einer wohlhabenden kalifornischen Vorstadt aufgewuch, “wußte, dass sich im Untergrund potentiell überraschende Wahrheiten über das Funktionieren der Gesellschaft entdecken lassen.” 

Sudhir Venkatesh ist William B. Ransford, Professor für “Sociology, and the Committee on Global Thought”, an der  Columbia University in New York City.

In acht Kapiteln und über 305 Seiten hinweg führt Venkatesh den Leser  durch das Labyrinth alternativer Einkommensformen. Er trifft die Latina-Prostituierte Angela, die auf einem schmalen Bett im Hinterzimmer des Pornoshops “Ninth Avenue Family Video” in Manhattans Hell’s Kitchen ihre Kunden bedient. Mit ihrer bescheidenen Kommission von $ 20 pro Stunde subventionieren Angela und andere illegale Sexarbeiterinnen aus Asien und Osteuropa ein legitimes Geschäft und helfen dem Ladenbezitzer Manjun, Frau und Kind aus Bangladesch in die USA zu bringen. 
Auch die Nachttaxifahrer, die tagsüber anderen wenig lukrativen Jobs nachgehen, profitieren von den Damen, wenn sie ihnen Kundschaft zuführen. Doch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem gesetzwidrigen Verkauf sexueller Dienstleistungen und zugelassenen Unternehmen ist nur ein Aspekt der Überlebensstrategien marginalisierter New York Citizens, den der Autor in seinem von Dialogen belebten Stil beschreibt. Es gehört zu seinen Verdiensten, dass er seine eigene vorurteilsfreie Herangehensweise - er stockt beispielsweise in Manjuns schäbigen Laden die Regale mit frischer Ware auf bewacht auch mal die Kasse - auf den Leser überträgt. Dass der Dealer Shine aus Harlem im Hinterzimmer auch Drogen an Angelas Klientel verkauft, sieht er nur als eine weitere Facette der Untergrundökonomie: die Tatsache, dass Shine seiner Crew ein wenig mehr als den Mindestlohn bezahlt, verhilft den jungen Schmugglern zu einem Einkommen, mit dem sie Lebensstandard ihres Viertels heben. Das gleiche Phänomen beschreibt Venkatesh anhand des Pakistanis Azad, der schwarz in einem Zeitungskiosks in Chelsea arbeitet und illegalen Einwanderern gegen eine erschwingliche Gebühr Jobs vermittelt. So fallen sie weder ihrer Gemeinde zur Last noch enden sie unter den Zentausenden Obdachlosen der Stadt.

Manjuns internationaler Kleinbetrieb, in dessen Hinterzimmer zwischendurch Ärzete für eine Handvoll Bargelt Immigranten ohne Papiere einen Hausbesuch abstatten und auch schon mehrere Kinder das Neonlicht dieser Welt erblickten, ist nicht der einzige Mikrokosmos, den Venkatesh unter die Lupe nimmt.  Ein paar Straßen südlich versucht Shine, in der Kunstszene mit anspruchsvollerer Ware - Kokain statt Crack - einen neuen Markt zu erobern. Analise, reiche Tochter aus bester WASP-Familie und Zuhälterin für andere rebellische Mädchen aus gutem Hause, ist ihm dabei behilflich. Schon seine langjährige Beschäftigung mit der Infrastruktur des Drogenhandels an der Southside von Chicago hatte Venkatesh über den Unternehmergeist der Pusher, aber auch über die vertikale Natur des illegalen Geschäfts belehrt. Doch fällt es ihm schwer, New York als eine Stadt fließender Grenzen zu erkennen. Es ist sein alter Bekannter Shine, der ihn dazu bringt, die Schranken zwischen den vermeintlich abgezirkelten Nachbarschaften zu ignorieren: “Du mußt dich bewegen”, rät der ambitionierte Drogenentrepreneur dem risikobereiten Akademiker, und so treibt er mit dem Auto die Avenuen auf und ab wie eine Zelle im Kreislauf eines ständig mutierenden Organismus. Bald entdeckt er nicht nur eine direkte Verbindung zwischen den CEOs von Harlems Koksmarkt und den gepuderten Partys von Wall Street Investoren, sondern er erkennt den inoffiziellen Austausch von Waren und Serviceleistungen als integralen und beträchtlichen Anteil der urbanen Ökonomie - eine Einsicht, zu der Analytiker der Wirtschaftssysteme von Drittweltländern längst gekommen sind. 

Von Anbeginn hadert Venkatesh mit seiner Disziplin, die ihm nahelegt, seine vermeintlich unveränderlichen Subjekte je nach Einkommen, Bildung und Herkunft zu klassifizieren. Er zieht die Rolle des “teilnehmenden Betrachters” der  soziologischen Tradition distanzierter  Beobachtung vor und macht seine Sympathien für die ökonomischen Untergrundkämpfer so deutlich, dass auch der Leser Anteilnahme für die beruflichen Höhen und Tiefen eines Crackdealers empfinden kann. Die vielen lateinamerikanischen Immigrantinnen, die Angela ihm zuführt, sprengen die Stereotypen, die selbst Venkatesh unwillkürlich mit sich herumträgt:  in freimütigen Gesprächen, die der Autor aus der Erinnerung reproduziert, entpuppen sich diese Gelegenheitsprostituierten meist als alleinstehende Mütter, die hauptberuflich als Putzfrauen, Kindermädchen, Büroangestellte oder Kassiererinnen arbeiten. Offensichtlich wünscht er Angela bei ihrem Versuch, mit der jungen, schönen Carla und der auch schon älteren Vonnie ein Minibordell im East Village zu eröffnen, Erfolg, den ihr auch der häufig zum Essen eingeladene lokale Priester gönnt. 

Dass Angela bei der erhofften Hipsterklientel nicht ankommt, weil sie ihrer eigenen Einschätzung zufolge wie deren Putzfrau aussieht, und Carla schließlich Selbstmord verübt, geht ihm nah. Auch sympathisiert er mit den Hemmungen, die Shine überwinden muß, um bei der Umstrukturierung seines Business einige Angestellten zu entlassen: einer der gefeuerten Teenager fürchtet sich am meisten vor dem Zorn seiner Mutter, der es nun an Haushaltsgeld fehlen wird. Venkatesh führt diese Fälle mit der lobenswerten Intention auf, das 1965 in Senator Patrick Moynihans einflußreichem Report diagnostizierte und für die hartnäckige Armut und Kriminalität der schwarzen Ghettos verantwortlich gemachte “Gewirr von Pathologien” als sinistre Fiktion zu entlarven. Für seine Begriffe suchen Schwarzmarktentrepreneure wie Majun, Angela und Shine nur nach ihrer Variante des amerikanischen Traums und sind oft “die Stützen ihrer Gemeinden.”

Zu den Personen, die Venkateshs Weltorgnung revidieren, zählt die zur Gesellschaftslöwin bestimmte Anelise, die ihn einst an Harvard zum Weinkenner machte. Im Unterschied zu Angela und ihren Mitstreiterinnen begibt sich Analise nicht aus Not, sondern aus Widerwillen gegen die elterlichen Erwartungen auf das Terrain der Edelprostitution. Dank ihres Organisationstalents, ihrer gesellschaftlichen Networks und der selbstverständlichen Anspruchshaltung der Hochprivilegierten kann sie sich erfolgreich als knallkarte Selfmade-Geschäftsfrau neu definieren. Ihre dem soliden irisch-amerikanischen Mittelstand entstammende Kollegin Margot gewinnt Venkateshs Herz mit ihrem Engagement für ihre lateinamerikanischen und afroamerikanischen Girls, denen sie gesellschaftlichen Schliff gibt und zu finanziellem Geschick verhilft. Für den in Scheidung lebenden Feldforscher wird sie zur Vertrauten, und so unterscheidet er sich kaum von etlichen emotional bedürftigen Freiern, den einzigen potenziellen Protagonisten der Untergrundökonomie, für die er keine Neugierde empfindet. 

Und während sich Venkatesh von den Armen und Gestrandeten immer mit Respekt behandelt sieht und von ihrer “herzzerreißenden Großzügigkeit” gerührt ist, fühlt er sich auf den Feten der Reichen - Shines und Anelises Revier - “wie in einem Werbefilm.” Venkatesh versteht “Flaoting City” als “Memoiren” seiner  wissenschaftlichen Forschungsarbeit, die er auch schon zu Dokumentarfilmen und Artikeln verarbeitete, und seine Parteinahme für die abgemühten Helden der Schattenwirtschaft ist überzeugend. Oft zeugt jedoch seine breitschultrige, in der deutschen Übersetzung von Dr. Jürgen Neubauer ein wenig heruntergespielte Prosa, von einem nicht zu unterdrückenden Stolz auf seine Doppelrolle als Professor und intimem Kenner verborgener Unterwelten: wie so viele New York Afficionados kann auch Sudhier Venkatech den von ihm beschworenen “Liaisons Dangereuses”, in denen er die Seele der Stadt sieht, nicht widerstehen. 

Claudia Steinberg

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