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Wednesday, September 3, 2014

Reportage: Wie Klaviere sterben - nichts für Zartbesaitete: Das letzte Stündlein geliebter Tasteninstrumente

Weder Hiobsbotschaften aus Syrien noch katastrophische Wettermeldungen aus dem mittleren Westen berührten die Leser der New York Times kürzlich so tief wie eine Titelgeschichte über das unrühmliche Ende ausgedienter Klaviere auf der Müllhalde. Die Vorstellung, dass ein schön geschnitztes Piano aus Rosenholz jäh aus einem LKW stürze und mit einem letzten metallischen Aufschrei rücklings auf dem Boden landen könnte, die eleganten Beine hilflos in die staubige Luft gestreckt, um dann von den Stahlzähnen einer Monstermaschine zermalmt zu werden, entfachte einen Sturm der Empörung. Martha Taylor, Inhaberin der Immortal Piano Company, die alte Instrumente vor dem Massengrab bewahrt und in dem düsteren Artikel als einziger Lichtblick erschien, erhielt Hunderte von Zuschriften: "Die traurigste stammte von einem Mädchen aus Brasilien, das ein altes Klavier aus den USA adoptieren wollte", sagt die Restauratorin, die allein wegen des moderaten, klavierfreundlichen Klimas in Portland und nicht in ihrer Lieblingsstadt New York lebt - mal abgesehen von den Transportkosten hätte das empfindliche Objekt den Temperaturschock wohl kaum überstanden. Jeffrey Harrington, der Eigentümer eines Umzugsunternehmens in Maplewood in New Jersey, wurde dagegen mit Hate Mail bombardiert, weil er dem Times-Reporter gestanden hatte, gebrechlichen Klavieren mit dem Vorschlaghammer zu Leibe zu rücken. Die Zeitung sah sich zu einem Folgebeitrag über Wohltätigkeitsorganisationen wie Keys 4/4Kids in St. Paul gezwungen, die heimatlose Instrumente zum Wiederverkauf zugunsten von Bildungsprogrammen aufbereitet.
Noch etwas zu hoch für den genialen Knirps: der kleine Mozart am Klavier

Nach einer langen Reise über die verwirrenden Highways von New Jersey offenbart sich Harringtons abgelegenes Möbellager jedoch keineswegs als Schauplatz der Klaviervernichtung, im Gegenteil: Endlosvideos erinnern die rund 20-köpfige Belegschaft in allen Hallen und Gängen an den fachgerechten Transport von Pianinos und Flügeln. Und wenn Jeffrey Harrington morgens um fünf noch vor seinen Angestellten aus Ghana und Mexiko auftaucht, setzt er sich erst mal an eines der verwaisten Klaviere, die ihm in den letzten Jahren immer häufiger in die Hände fallen, und spielt hingebungsvoll zwischen den riesigen Rollen von Luftpolsterfolie, aufgetürmenten Holzkisten und Gabelstaplern, am liebsten Songs von Billie Joel, "A New York State of Mind". Herrington versucht, den noch wohltönenden Instumenten eine Unterkunft in Kirchen, Altersheimen oder Schulen zu verschaffen. Nur wenn sich bereits Mäuse zwischen den Saiten eingenistet haben oder in dem Kasten nichts als schiefe Töne hausen, wendet er Gewalt an.

Kein anderes Möbelstück besitzt das gleiche sentimentale Gewicht wie ein altes Klavier, doch sein Wert ist in den letzten Jahren rapide gesunken. Die Dissonanz zwischen Nostalgie und Markt liegt zum Teil daran, dass sich der tonnenschwere Gegenstand ästhetisch immer weniger in die leichtfüßigen Einrichtungen des 21. Jahrhunderts einfügt, wobei ein 50,000 Dollar Steinway Konzertflügel mit seinem klassischen Design und unnahbaren Lack natürlich über alle Moden der Innenarchitektur triumphiert. Doch die weniger aristokratischen Instrumente aus der Hochzeit der Klavierproduktion vor rund hundert Jahren haben ihre Lebensspanne, die knapp an unsere eigene heranreicht, längst überschritten. "Besonders Nicht-Spieler erliegen einem romantischen Mißverständnis von der Unsterblichkeit des Klaviers", erklärt Martha Taylor, "doch es handelt sich dabei um einen komplizierten, anfälligen  Organismus mit der Präzision einer Uhr, der zugleich einer immensen inneren Spannung unterliegt." Mit 80 sind die Gelenke müde, das Holz spröde, und selbst die besten der immer seltener werdenden Klavierstimmer und -restaurateure können diesen Greisen kaum noch Harmonisches entlocken. 

Keine Spur mehr von einstiger Noblesse: Vom Prunkstück zum Trümmerhaufen
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Leiter der Klavierfabriken in Amerika den Status wie jetzt die CEOs der Computerindustrie, sie wurden von Politikern hofiert", meint Larry Fine, Verleger und Chefredakteur der Brancenbibel Acoustic & Digital Piano Buyer. Schon vor der Großen Depression fiel die Pianoproduktion innerhalb von fünf Jahren um 90 % - Radio, Kino und die Abschaffung der höheren Töchter durch die Frauenemanzipation drängten das Klavier in jene Sphäre einer idyllischen Bürgerlichkeit, an die sich heutige Sehnsüchte heften. Nagelneue digitale, leichte Pianos und Keyboards mit Kunststoffkomponenten aus China, die - um den Preis der Ausbeutung von Menschen und Umwelt - weniger kosten als die Reparatur eines betagten Klaviers und oft einen ungleich besseren Klang besitzen, haben die abgekämpften Heavyweights endgültig ins Reich des Sentiments abgeschoben. Auf eBay werden mehr Klaviere zu Spottpreisen angeboten, als sich Abnehmer finden. So stehen seit Beginn der Rezession ausrangierte Klaviere immer häufiger am Straßenrand, ein ebenso surreales Bild wie die vielen an den Bordsteinen gestrandeten Motorboote, deren Besitzer sich weder ihren Unterhalt noch ihre korrekte Entsorgung leisten können.


Zumindest aber wärmen die Gebeine der klapprigsten Instrumente im Winter die Angestellten der New Yorker Firma Beethoven Pianos, die Klaviere restauriert, verkauft und vermietet, wenn sie nicht doch dem Holzofen als Schall und Rauch entschwinden. Transporterarbeiter, die sich an 1200-Pfund-schweren Exemplaren abschleppen und dabei um jeden Kratzer bangen, sollen sich in aufrichtigen Momenten gar zu einer sadistischen Freude am brutalen Ende ihrer sprerrigen Peiniger bekennen. Und auf Youtube hat sich das "piano smashing" mit fünfminütigen Beiträgen unter Titeln wie "Five Guys Are Having Fun Destroying a Piano" zu einem eigenen Genre ausgewachsen - ein Beweis für die anhaltende Popularität  der altmodischen Tasteninstrumente, denn nur Liebesobjekte laden gemeinhin so viel Wut zuteil.